Zu guter Letzt:
„Nicht alt werden, nicht alt geworden sein, sondern: alt sein.
Nicht Angst vor dem Alter, nicht Angst vor dem Siechtum und Tod, sondern: alt sein.
Mehr als die Hälfte des Lebens habe ich schon gelebt. Unsinn: Dann müsste ich ja hundertsechzig Jahre alt werden.
Also mehr als drei Viertel des Lebens gelebt? Vier Fünftel? Dann hätte ich noch zwanzig Jahre zu leben? Und würde hundert Jahre alt werden.
Und wenn ich noch zehn Jahre vor mir hätte? Zehn Winter, zehn Frühlinge, zehn Sommer, zehn Herbstzeiten? Zehnmal sehen, wie hinter unserem Zaun das Korn geschnitten und gedroschen wird, wie die LKWs versetzt hinter den Mähdreschern fahren und das Korn aufnehmen aus hohem staubigen Bogen?
Der Grossteil meines Lebens ist vorbei. Und es geht immer schneller. Wie in den Trichter eines Ameisenbären rutsche ich, der Sand gibt nach. Die Medikamentenbox für die Woche habe ich doch gestern erst vollständig gefüllt mit zwanzig Tabletten täglich. Und nun ist sie leer. Hab ich die Vorhänge nicht eben zugezogen, frage ich mich, wenn ich sie aufziehe. Und erst das Frühstück. Hab ich es nicht eben abgeräumt – und nun kommt schon die Tagesschau.
Sich der Zeit demütig ergeben, las ich kürzlich.
Das ist das Gute, das Sanfte, das Glückbringende am Alter: Ich muss gar nichts.“
Helga Schubert (81) im höchst empfehlenswerten Buch „Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten“. dtv, München 2021
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