Das war Christa Wenger: «... geniesse ich die Sonne und atme».

So traurig wie beglückend

Die Politikerin, Berufs- und Familienfrau Christa Wenger erlaubte drei Tage vor ihrem Tod einen intimen Einblick in ihr Leben und Sterben.

Von Beat Bieri

Am 24. September 2024 verstarb Christa Wenger, 60 Jahre alt, Mutter einer erwachsenen Tochter, verheiratet mit Thomas Küng, grüne Politikerin, vormals Präsidentin der Reformierten Kirchgemeinde Luzern. Drei Tage zuvor sprach sie über ihre Erfahrung einer eineinhalb Jahre dauernden Krebserkrankung, über diese Zeit voller Hoffnungen und ebenso vieler Rückschläge, über das, was womöglich noch kommen wird.

Doch da war nicht die geringste Spur einer Verbitterung: «Ich warte die ganze Zeit auf die grosse Wut, doch sie kommt nicht», meinte sie, lachend, so gut es ging angesichts der Atemnot. Es war ein trauriger Anlass, dieses Gespräch zu führen. Und doch war es auch ein beglückendes Gespräch.

Als ich dich vor zwei Wochen fragte, ob du dieses Gespräch führen möchtest, hast du ohne grosses Zögern ja gesagt. Das war nicht unbedingt selbstverständlich, denn ein solches Gespräch ist auch eine Belastung. Warum hast du zugesagt?
Weil Thomas und meine Tochter Johanna dies eine gute Idee fanden – und ich fand, ja, warum eigentlich nicht?

Wie würdest du dein heutiges Befinden beschreiben?
Vor einer Woche war ich ja noch autonom, jetzt hat es gedreht. Wie soll ich sagen? Mir scheint, wir haben Glück, weil wir keine Geldsorgen haben, wir können alles so nehmen wie es kommt, das ist super. Aber was die Diagnose angeht, da habe ich Pech bes änenuse. Denn eine Atemnot ist vermutlich das Schwierigste, das einem passieren kann. Dies kombiniert mit einer Dysphagie (Schluckstörung), ist noch schlimmer.

Du hast die Diagnose der Krebserkrankung einige Tage vor dem Wahltermin der Regierungsratswahlen erhalten (Christa Wenger kandidierte 2023 für die Grüne Partei für den Luzerner Regierungsrat), vor eineinhalb Jahren Ende März 2023. Einerseits waren da die Wahlen mit Erwartungen, verbunden mit Zukunftsaussichten. Anderseits diese Diagnose. Wie war das damals für dich?
Ja, das war ziemlich streng. Denn ich konnte ja meiner Partei nicht zumuten, dass sie dies auch noch handhabt. Deshalb habe ich nur eine Person informiert. So haben wir es bis am Mittwoch nach den Wahlen durchgezogen, als wäre ich gesund. Doch bereits vor dem Wahltermin musste ich einige Untersuchungen machen, um festzustellen, ob die Krankheit kurativ ist oder palliativ. Damals meinte man noch, sie sei kurativ.

War diese Diagnose für dich eine Überraschung – oder hast du so etwas befürchtet?
Beides. Einerseits war es eine extreme Überraschung. Ich wollte beim Hausarzt eine Physio-Verordnung holen – und dabei hat er den Tumor entdeckt. Doch ich habe schon in den Wintermonaten zuvor gespürt, dass da etwas ist. Ich hatte eine Pfeiffersche-Drüsenfieber-Diagnose, und meinte, es sei dies.

Dieser ersten Diagnose vor eineinhalb Jahre folgte ein Auf und Ab. Da waren erfolgreiche Operationen und Behandlungen, dann wieder schlimme neue Diagnosen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Wie war das für dich?
Es war sehr streng. Denn alles ging so schnell. Ich konnte schliesslich keinen einzigen meiner Pläne mehr umsetzen. Und meine Ämter wurden immer weniger. Seit November bin ich palliativ.

Du machst eine Erfahrung, die jeder und jede mal in irgendeiner Form machen muss. In deinem Fall jedoch ist sie besonders schmerzhaft, weil deine Krebserkrankung sich in einem heimtückischen Auf und Ab entwickelt und auch viel zu früh kommt. Hast du eine zentrale Erkenntnis gewonnen aus diesen Erfahrungen der letzten eineinhalb Jahre?
Ich staune, wie viele Ressourcen wir haben. Und dass es uns gelingt, alles so zu nehmen, wie es kommt. Es ist ein Anpassungsprozess, der uns einigermassen gut gelingt. Dann gibt es wieder Momente, die traurig sind wegen all der Verluste. Doch bislang war es so, dass der Anpassungsprozess obsiegte.

Hat sich durch diese Krankheit dein Blick auf das Leben verändert?
Nicht wirklich. Ich bin froh, dass wir genug Geld haben. Ich bin froh, dass ich nicht mehr vierzig bin und alleinerziehend. Ich bin froh, dass meine Tochter erwachsen ist. Ich bin froh, dass wir diese Wohnung haben. Ganz viele Dinge gehen so einfacher. Und daran hat sich nichts geändert. Wenn ich zurückschaue, wird mir schon klar, dass ich einige Dinge falsch gemacht habe. Doch letztlich, so finde ich, hatte ich ein sehr erfülltes Leben. Und ich hatte noch nie, auch als Kind, das Gefühl, etwas sei besser, wenn es lange dauert.

Du warst Präsidentin der Reformierten Kirchgemeinde Luzern. Wie ich dich kenne, bist du nicht eine ausgesprochen fromme Person, aber vielleicht eine religiöse. Was bedeutet dir Religion?
Das ist eine schwierige Frage ... Dies war ja ein politisches Verwaltungsamt, nicht ein theologisches, das muss man unterscheiden. Ich konnte da in den drei Jahren erstaunlich viel bewegen für die Kirche. Ich gehe davon aus, dass die Werte der Kirche in unserer Gesellschaft irgendwo einen Platz haben. Ich leide nicht darunter, dass die Kirche kleiner wird. Ich habe auch immer gesagt, vielleicht schaffe ich mich selbst ab.

Die Religion bietet ein Versprechen, eine Hoffnung auf das, was nach dem Tod kommt. Machst du dir darüber Gedanken? Was sind deine Erwartungen?
Alles ist endlich. Und niemand weiss, was danach geschieht. Mir ist auch klar, dass ich womöglich, wenn es so weit ist, auch einen Moment Angst verspüren werde. Das ist normal. Ich gehe einfach davon aus, dass das, was dann geschieht, etwas Gutes ist. Doch ich weiss es auch nicht. Und es plagt mich nicht, dass ich es nicht weiss.

Diese Frage mag vielleicht unsensibel klingen, doch ich meine sie nicht so: Was erwartest du noch vom Leben?
Das ist heute etwas schwierig, weil ich so wenig Luft kriege. Ich möchte schauen, ob wir das noch etwas erleichtern könnten. Ansonsten geniesse ich die Sonne und atme.

Gibt es in dieser ganzen Schwere etwas, das du als positiv bezeichnen könntest?
Schwer ist, dass man jetzt gerade nicht weiss, wie es weitergeht. Es gibt so viele Wege. Ich kann an einem Nierenversagen sterben. Ich kann an Atemnot sterben. Es kann x-was sein. Das Leichte darin ist, dass man halt einfach damit umgeht, was dann kommt.

Anders gefragt: Wo findest du Trost in dieser Situation?
(Zu Thomas gewandt) Finde ich Trost?
Thomas: Du suchst eigentlich gar keinen Trost.
Christa: Nein, das suche ich nicht.

Dein Verhalten erscheint mir absolut bemerkenswert, um nicht zu sagen: bewundernswert. In dieser ganzen Schwere zeigst du, jedenfalls in den vergangenen Monaten, sehr viel Normalität. Gespräche mit dir drehen sich nicht nur um deine Krankheit, sondern du sprichst auch über andere, auch ganz banale Dinge. Du wirkst so, als ob du nicht nur durch diese Krankheit bestimmt werden willst. Vielleicht ist dies eine realistische Form des Widerstands gegen diese Krankheit. Damit machst du es den Leuten um dich herum auch leichter.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass die Leute dies mit mir mitmachen. Ich mute dies ihnen ja auch zu. Und ich bin auch nicht heimlich krank. Diesen Prozess des Anpassens müssen nun halt alle um mich mit mir mitmachen. Dabei müssen alle selbst herausfinden, wie weit sie mit mir gehen wollen. Die Leute sind erwachsen und sollen dies selbst entscheiden. Was ich grandios finde in diesen 18 Monaten: Ich bin nie alleine. Ich bin immer zusammen mit Leuten, die mit mir diesen Weg machen. Ich war immer eine Person, die sich nicht in den Mittelpunkt stellte. Das war mir egal. Und jetzt, ganz am Schluss, muss ich noch lernen, mich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Jetzt werde ich noch ein kleines Narzisstlein (lacht).

Was gibt dir die Kraft, nicht allein von dieser Krankheit bestimmt zu werden?
Das interessiert mich nicht. Allerdings jetzt gerade muss ich lernen zu atmen. Das ist das Strengste, das ich in meinem Leben je machen musste. Ich kenne nichts anderes, das ebenso streng ist. Es ist ja nicht so, dass mich meine Krankheit nicht interessiert. Ich habe gegoogelt, ich bin extrem gut mit den Ärztinnen und Ärzten im Gespräch. Zum Glück habe ich einen Beruf aus dem Gesundheitswesen, zum Glück bin ich gescheit, so Sachen helfen. Letztlich interessiert mich aber viel mehr das Zusammenwirken mit den Leuten als das, was nur mich angeht.

Rückblicke auf ein Leben klingen gelegentlich so: Ich bereue nichts von dem, was ich gemacht habe. Vielmehr bereue ich, was ich nicht gemacht habe.
Die Menschen gehen sehr unterschiedlich um mit dieser Frage. Doch ich empfinde kein Bedauern wegen Dingen, die ich nicht gemacht habe.

Ein hervorstechendes Merkmal deiner Person ist eine ausgesprochene Autonomie. Als Politikerin hast du diese gezeigt. Als Ergotherapeutin hast du anderen Leuten geholfen. Als Jugendliche hast du nach dem frühen Tod deiner Eltern für deine jüngeren Schwestern die Elternrolle übernommen. Eine solche Krankheit lässt die Autonomie schwinden, die Selbstbestimmung. Ist das für dich eine schwierige Erfahrung?
Ja, das ist das Schwierigste, der Verlust meiner Autonomie. Ich finde es faszinierend, dass ich am Schluss auch das noch lernen muss (lacht). Ich habe dreissig Jahre im Gesundheitswesen gearbeitet. Ich habe mich immer gewundert, dass die Leute so störrisch tun im Bezug auf Krankheit. Dabei ist beides normal, gesund sein und krank sein. Klar hätte ich mir gewünscht, ich hätte diese Krankheit nicht. Ich bin ja nicht blöd. Doch warum sollte es gerade mich nicht erwischen? Ich bin damit sehr offen umgegangen. Die Leute sollen ruhig sehen, man kann auch krank sein. Doch selbst dann ist man nicht nur krank, man ist noch ganz viel anderes mehr.

Eine solchen Krankheit könnte auch eine Verbitterung hervorrufen: Warum hat es gerade mich getroffen? Bei dir spüre ich nicht die Spur einer solchen Verbitterung.
Ich warte die ganze Zeit darauf, dass die Verbitterung kommt, die grosse Wut. Doch sie kommt nicht (lacht). Die Frage jetzt ist, wie viel kann ich noch ertragen? Mit den Ärzten haben wir diese Woche entschieden, nichts mehr zu machen. Ich habe dabei gesagt, dass ich nicht versessen darauf bin, den ganzen Prozess bis zuletzt durchzuziehen und alles zu lernen. Wenn es zu mühsam wird, kann man mich vollladen und dämmern lassen, fertig Schluss. Es ist nicht so, dass ich es übertreiben muss.

21. November 2024 – beat.bieri@luzern60plus.ch