Yvonne Volken. Bild: Joeph Schmidiger

Das kleine und das grosse Gruseln

Von Yvonne Volken

Seit Monaten schaute auch ich ungläubig, bange und gebannt zu, wie der einst politisch Totgeglaubte täglich grösser wurde, monströser, anarchischer. Wie er alles überlebte, Alien-mässig, sämtliche Prozesse, Angriffe, Analysen und Richtigstellungen, sogar einen Mordanschlag. Ich übte Medienabstinenz und kehrte dann doch wieder zu Tagesschau, Podcasts und Zeitungsreportagen zurück. «Es chond wies muess», hätte ich mir sagen können. Den Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass alles gut kommt. Das beherrsche ich eigentlich gut. Warum also hinschauen, wo das Böse lauert?

Zweifellos haben viele Menschen von klein auf eine Faszination für Untote und Gespenster, für funkelnde Totenköpfe, zappelnde Skelette, arme Seelen und Poltergeister. Denn es gibt in uns offenbar, so formulieren es Entwicklungspsychologinnen und Märchenspezialisten, die sogenannte Angstlust. Vielleicht spielt diese Faszination auch bei den US-amerikanischen Wahlen eine Rolle. Wir sind ja nur Sofa-Beteiligte, nur Zuschauer:innen und müssen es tatsächlich nehmen, wies kommt.

Angstlust. Die Mischung aus leichter Panik, Gruseln und Euphorie entstand bei uns zu Hause jeweils bei einem beliebten Feierabendspiel. Das ging so: Papa kommt nach Hause und die Kinder triezen ihn so lange, bis er zum Monster wird. Schweren Schrittes kommt das Papamonster nun daher, die Arme und Hände zum Beutefang ausgefahren, und sagt mit bedrohlicher Brummstimme: «Wuhuu, gleich packe und fresse ich euch alle.» Die Kinder stieben kreischend auseinander, verstecken sich in der Wäschezaine, im Schrank, hinter den Mänteln an der Garderobe. «Wuhuu», sagt das Monster und irrt scheinbar blind in der Wohnung herum. Bis eine vorwitzige Kleine sich irgendwo zeigt und ihm die lange Nase macht, worauf er sie fängt und frisst und dann sanft zu Boden gleiten lässt. «Wuhuu», macht das Monster nochmal und nochmal. Das Spiel geht so lange, bis eines der Kinder panisch weint oder bis die Mutter – und heutzutage auch der Vater – ruft: «Essen ist fertig.»

Gruselwesen, Monster, Werwölfe, Zombies und Vampire haben schon lange Konjunktur in unserer kindlichen und erwachsenen Geschichtenwelt. Monster, so sagen Expertinnen, gelten als Repräsentanten von Anarchie und Trotz, als Mittel zur Angstbewältigung oder auch als Verkörperung von Sehnsüchten. Wissenschafterinnen, wie die deutsche Kinder- und Jugendliteraturforscherin Mareile Oetken, nennen es eine «Als ob»-Situation: Wir können an den Gruselwesen stellvertretend Ängste ausleben, ausprobieren, uns in extreme Gefahrensituationen begeben und zugleich wissen, dass wir gemütlich im Stuhl sitzen und ein Buch vor uns haben. «Denn diese Ängste sind da, die Lebensängste, die Angst vor Bedrohung, die Angst vor plötzlichem Einbruch in unsere gut strukturierte Alltagswelt. Und dafür stehen diese fantastischen Figuren. Damit stellvertretend umzugehen, kann wichtig sein.»

Die Lust muss allerdings grösser sein als die Angst, heisst es in der Forschung: Wir begeben uns in eine Situation, die uns nicht geheuer ist, die wir nicht überblicken können, und wir empfinden darum grosse Spannung. Wenn die Angst zu gross ist, gibt es jedoch Kippmomente, und die Lust daran, der Spass an der Angst, geht zu weit. Dann macht sich Panik bereit.

Die Angstlust-Geschichte geht also nur auf, wenn die Monster besiegbar sind. Wie in der Monster-Geschichte, die mein Enkel so liebt: «Ich komm’ dich holen», heisst das Bilderbuch des englischen Illustrators Tony Ross: Ein zotteliges Ungeheuer, das von seinem Raumschiff aus das Weltall unsicher macht, nimmt eines Tages Kurs auf die Erde. Es will sich den kleinen Tommy holen, der vor Ungeheuern ziemliche Angst hat. Als sich das Ungeheuer eines Morgens mit schauerlichem Gebrüll auf Tommy stürzt, muss es zu seinem Erstaunen feststellen, dass Tommy ein klein wenig grösser ist als gedacht … Wäre doch schön, wenn Kamala an Tommys Stelle wäre – und das Monster kleiner als gedacht.

31. Oktober 2024 – yvonne.volken@luzern60plus.ch


Zur Person
Yvonne Volken, geboren 1956, war u. a. als Buchhändlerin, Journalistin, Kulturveranstalterin und Klassenassistentin tätig. Sie kam so mit ganz unterschiedlichen Lebenswelten in Kontakt. Seit ihrer Pensionierung sammelt sie Erfahrungen als betreuende Angehörige – und neuerdings als Grossmutter.