Stolzer Hengst als Freund und bewachter Kleiderständer.

Freie Sicht auf See und Nackte

«Der Flaneur» ist unterwegs, diesmal am Quai, von der Seebrücke bis vor die Muggenburg (27. Ausgabe).Von Karl Bühlmann (Text) und Imkontext (Bilder)

Die Sommerhitze bringt Hund und Katze ins Schwitzen und treibt den Flaneur unter die schattenspendende Rosskastanien-Allee am Schweizerhofquai. Wohltuend, diese Fussgänger-Promenade, ein kostenloses Stück Ferienstimmung vor der Haustür! Der Quai steht unter besonderer Observation der Einheimischen: Die einen ärgern sich über streunende Vierbeiner oder gedankenlose Zweiradfahrerinnen und -fahrer auf verbotenem Grund. Andere rümpfen die Nase über Wasservögel: fütternde Touristen oder störende Warteschlangen beim Schiffssteg und Glacé-Stand.

Seeseitig ist die Reihe der 42 mehrheitlich betagten Rosskastanien, Stämme mit krustigen Borken, altershalber oft etwas geneigt, zur Krone hin verdreht. Ein Exemplar ist vor einem Jahr während des Lichtfestivals plötzlich umgekippt. Glücklicherweise stand niemand unter dem Geäst und erlebte das Schicksal Ödön von Horváths, der 1938 in den Champs-Elysées in Paris unter einer fallenden Platane zu Tode kam. In diesem Frühjahr fällte Stadtgrün Luzern eine Kastanie, die von einem Lieferwagen touchiert worden war, aus «Sicherheitsgründen, da die Standfestigkeit nicht mehr garantiert war». Ein rotweisser Verkehrskegel markiert noch immer die Stelle.

Hier stand bis 26. März 2024 eine Kastanie.

Welcher Baum segnet als nächster das Zeitliche? Der Flaneur hat auf der ersten Viertelmeile zwei moribunde Kandidatinnen ausgemacht, eine in Schieflage, bei der zweiten wuchern unten Pilze aus dem Stamm. Könnte es der parasitäre Gemeine Schwefelporling sein, der für Braunfäule an Laubbäumen verantwortlich ist? Gibt es eines Tages eine Helmpflicht für Spaziergänger? Oder genügt es, die alten Bäume der inneren Reihe beim Passieren scharf ins Auge zu fassen?

Sicherer ist die strassenseitige Reihe mit 42 minderjährigen Abkömmlingen der Gattung Aesculus hippcastanum. Sie wurden anstelle der bisherigen altersschwachen Vorgänger gepflanzt, zwei Meter näher zum See als die alte Reihe, damit es Platz gab für den Radstreifen. Die notwendige und nächtliche Abholzung von 17 betagten Bäumen war 2007 aus «Sicherheitsgründen» geheimgehalten worden, «wohl auch deshalb, weil die Stadt die Arbeiten in Ruhe und ohne Störaktionen durchführen wollte», berichtete die «Luzerner Zeitung». Wohlweislich – zwei Jahre zuvor war die Rosskastanie zum «Baum des Jahres» erklärt worden.

«Der krumme Baum lebt sein Leben, der gerade Baum wird ein Brett». (Chinesisches Sprichwort)

Sucht da der gemeine Schwefelporling ein nächstes Opfer?

Auf der gebührenfreien Parkbank sitzend, den «Schweizerhof» im Rücken, schweifen des Flaneurs Gedanken ins Jahr 1974 zurück. Der damalige luzernische Aufschrei war schweizweit gehört worden. Die Stadt hatte in einer Umfrage nach Vorschlägen für das neue touristische Leitbild gesucht. Die Hoteliers von drei Häusern am See äusserten die frevlerische Idee, es müssten einzelne Abschnitte der Allee geopfert werden. «In ihrer jetzigen Anordnung wirken die Quaibäume düster», sagte V. H., «sie vermitteln keine fröhliche und beschwingte Atmosphäre». Anstelle der Bäume sei der Quai mit Grünflächen, Blumenarrangements, Aufschüttungen, einem Yachthafen umzugestalten. Auch die altehrwürdige «Seebadi» stand auf der Abschussliste. Der Hintergedanke der Abholzerei war offensichtlich: Freie Sicht auf See und Berge für die Gäste in den ebenerdigen Restaurants der Hotels!

Die «Luzerner Neusten Nachrichten» nahmen sich des Themas an und forderten die Leserschaft zur Stellungnahme auf. 203 Leserbriefe trafen in kürzester Zeit ein, alle Einsendungen kritisierten die «Bieridee» und den «Schildbürgerstreich». Wenige Wochen später kam die beruhigende Meldung aus dem Stadthaus: «Quai-Bäume fallen nicht.» Denn eine Umgestaltung des Quais gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung komme ebensowenig in Frage «wie kurzfristige Massnahmen in Form einer streckenweisen Auflockerung des Baumbestandes vor den Hotels zur Aussichtverbesserung». 

Die Luft säuselt und kühlt an diesem Sommertag unter den Rosskastanien, und statt der Beine wandern die Gedanken und drehen Kreise an Ort. Dürfte die Flaniermeile am See nicht es bitzeli breiter werden? Eine kleine Aufschüttung an einzelnen Stellen in den See hinaus? Darauf kleine Bistros und Cafeterias, Buvetten mit regionalen Drinks und Gelaterias, so wie an der Seine in Paris? Dies wäre eine sinnvolle Entlastung für den Reussquai, wo an schönen Tagen alle Stühle besetzt sind und in der Hochsaison der touristischen Pilgerzüge kein Durchkommen ist. Am Quai könnten Bellevue und Postkarten-Atmosphäre, mega Coolness und Gioia di vivere geboten werden, besser als auf der Bahnhofstrasse, die zur «Begegnungszone» erklärt wurde. Wer will sich dort, meist mehr shady als sunny, auf ein Plauderbänkli setzen?

Also nochmals etwas Seeaufschüttung gefällig? Die Stockenten, Haubentaucherli, Blässhühner und Schwäne wären anpassungsfähig, die Fische halten sich weiter draussen auf. Selbst die gemeine oder gewöhnliche Armleuchteralge Chara vulgaris würde den kleinen Umzug ein paar Meter weiter in den See gut überleben. Wikipedia weiss nämlich, dass die Armleuchterin auch frisch entstandene, mit Wasser gefüllte Störstellen und kleine Gewässer besiedeln kann.

Schon die Vorvorvorvorvorgänger-Regierung hatte 1895 beantragt: «Das Trottoir längs des Schweizerhofs von 3,25 auf 5 Meter zu verbreitern (wo sind heute diese Meter?). Die Fahrbahn mit einer Breite von 13,25 statt bisher 8,4 Meter auszustatten, denn so wird es mit der Zeit auch möglich sein, eine Trambahn hier durchzuführen, ohne dass der Wagenverkehr beengt würde (wir warten auf die durchgehende Busspur). Die Promenade längs des Sees wird erweitert von 13 auf 16,4 Meter. Die Allee wird in der Weise seewärts gerückt, dass die bisherige äussere Baumreihe als zukünftige innere Baumreihe bestehen bleibt». Der Flaneur hat keinen Meterstock bei sich, aber er erkennt sogar durch die Sonnenbrille, dass von den 16,4 Meter seither einiges verlustig ging. 

Das Material für die Quai-Verbreiterung vor 129 Jahren stammte aus dem Aushub des 2107 Meter langen Stadttunnels der Gotthardbahnlinie Luzern – Küssnacht. Es ist nicht bekannt, ob es ein Hallo gab, einmal wegen der Aufschüttung und zweitens wegen der günstigen Entsorgung des Aushubmaterials. Auch die Hausermatte, zwischen Haldenstrasse und See in der Nähe des Tunnelausgangs gelegen, war nicht vom Allmächtigen geformt, sondern mit aus dem Dreilindenhügel herausgebrochenem Gestein zur grossen Fläche gemacht worden.

Wie viele Meter erst hätte der See hergeben müssen, wenn die Idee der Gotthardbahn-Direktion von 1875 umgesetzt worden wäre? Diese plante eine zentrale Bahnhofanlage an der Halde! – Retour in die Zukunft: Wo wird das Aushubmaterial deponiert, wenn der Durchgangsbahnhof Luzern realisiert und das Luzerner Seebecken untertunnelt würde? Gottlob wird diese Frage, wenn überhaupt, erst aktuell, wenn der Flaneur seine Spaziergänge längst eingestellt hat und abgetaucht ist.

Weiter gehts zügigen Schritts am muschelförmigen, geometrisch ornamentierten Musikpavillon von 1908 vorbei. Die Zeit der Kurorchester ist passé, die Touristen auf den Stühlen warten vergebens und trösten sich mit Sandwiches, kein Bänkelsänger wagt sich auf die Bühne. Was nicht verwundert, heisst es doch auf dem Blechschild klar und deutlich «Bet  eten  verbo  en».

Hinweis für Touristen in Esperanto am Musikpavillon.

Es empfiehlt sich, den historischen hohen Kandelabern vor der Hotelfassade für einmal besondere Aufmerksamkeit zu schenken: den schmiedeeisernen Glühlichtgestellen von Schlossermeister Lampert und den runden Lampensäulen, die an der Basis ihre Herkunft verraten: AG TH. BELL & CIE KRIENS 1908. Die 1885 eröffnete «Seebadeanstalt» am Nationalquai, früher «Föfzigerbadi» geheissen, ein vierflügeliger Pfahlbau im Cottage-Style, ist nach wie vor eine gut frequentierte Attraktion. Ein Bijou auch die von Stadtgrün mit Blumenbeeten umrahmte Wiese beim – das sei in diesem Fall nicht verschwiegen – beschrifteten Carl-Spitteler-Denkmal. Roland Duss, ursprünglich Dreher in der Viscosefabrik Emmenbrücke, in München und Paris zum Künstler geworden, hatte 1940 die liegende Nackte geschaffen. Deren «naturalistische, neuheidnische, unsittliche, unschweizerische» Blösse sorgte für rote Köpfe und rief die konservative Tageszeitung «Vaterland» auf den Plan. Besorgte Eltern fürchteten beim Sonntagsspaziergang am Quai um die katholische Gesundheit ihrer Kinder. 

Frommer Wunsch vor der Seebadi am Nationalquai.

Auf der Liegewiese daneben wird «gsünnelet», und es posieren zwei heroische Pferdebändiger in Bronze, ebenfalls nackt, das männliche Attribut züchtig mit dem klassischen Feigenblatt verhüllt. Rücken und Schweif der Vierbeiner dienen Sonnenhungrigen als Kleiderablage. Bildhauer Hugo Siegwart gestaltete die Pferdegruppe im Auftrag des Architekten Armin Meili für das 1933 eröffnete (erste) Kunst- und Kongresshaus. Dort flankierten Ross und Reiter die Stufen zum Haupteingang. Wer hat das athletische Empfangskomitee dort noch erlebt, ist an ihnen vorbei ins Konzert gegangen? Siegwarts Name ist nirgends in der Bronze eingraviert. Der Künstler hatte aus Verärgerung auf die Signatur verzichtet, weil sich der Auftraggeber bei der Arbeit einmischte und verlangte, die Pferde nach dem Vorbild von San Marco in Venedig, der aus der Antike stammenden Quadriga marciana, zu gestalten. – Umso dringender wäre es, wenn die Stadt die um- und deplatzierte Pferdegruppe benennen und auf den ursprünglichen Standort hinweisen würde. Oder sie gleich der Stiftung für das Pferd, dem Pferdealtersheim Le Roselet in Les Breuleux, übereignen?

Um beim Thema Kunst im öffentlichen Raum zu bleiben, sollen an dieser Stelle zur Geschichte der Hausermatte, die in den letzten fünfzig Jahren in der Stadt so oft für Aufregung, Proteste gegen die Überbauung und politische Vorstösse sorgte, nicht viele Worte verloren werden. 1976 hatte die Bevölkerung einer Aufschüttung am Rande des Grundstücks zugestimmt (15'483 Ja gegen 4773 Nein), damit die Fortsetzung des Fussweges am See entlang gebaut werden konnte. Er führt nach der Umrundung der 1980 überbauten Hausermatte zum Hans-Erni-Quai, wo die geschenkte (nackte) Figurengruppe des 2015 verstorbenen Luzerner Künstlers den Weg säumt.

Die rennenden «Hippomenes und Atalante» animieren den Flaneur zum Endspurt. Auf dem Gelände um die einstige Muggenburg, heute das Haus der Schützen, fällt das kleine, hellfarbene Objekt als erstes auf. Es ist ein Memorial, die metallische Flamme auf dem Sockel ehrt das ökumenische Wirken des Theologen Otto Karrer. Die Plastik, 1963 von Bildhauer Rolf Lüthi geformt, war wegen Beschädigung lange Jahre verschwunden, letztes Jahr wurde ein Replikat gegossen und wieder aufgestellt. «Auf dass Ihr eins werdet», heisst es als einzige Beschriftung auf der Steinplatte am Boden davor. Am Wasser steht der hohe schlanke Betonquader, zuoberst tanzen die Figuren. Wer über die Bollensteine zur Säule kraxelt, kann entziffern, dass «Joie de vivre» von Franco Annoni geschaffen wurde.

Gratisparkplatz im Schatten der «Steppenfigur» am General-Guisan-Quai.

Die grösste Plastik vor Ort am General-Guisan-Quai ist seit Jahrzehnten ein unbekanntes Wesen. Des Rätsel Lösung: Die Aluminiumplastik heisst «Steppenfigur» und ist ein Werk des Bildhauers Max Weiss. Er stammte aus Emmenbrücke, lebte und arbeitete im tessinischen Tremona. Der Luzerner Walter Schweizer, Inhaber der Kunstkreis AG, orderte zum 25-Jahr-Jubiläum des Verlags beim Künstler die Grossplastik. Er liess sie mit Erlaubnis der Stadt 1972 am heutigen Standort aufstellen. Darauf startete er eine Sammelaktion, um die 46'000 Franken für den Ankauf zusammenzubringen. Der Verlag wollte nur als Initiant und Risikoträger auftreten. Das Vorhaben ging schief, es kamen bloss 15'000 Franken zusammen, der Initiant musste tief ins eigene Portemonnaie greifen. Die «Steppenfigur» aber blieb, und die Stadt hat bis heute kein Kässeli gefunden, um das geschenkte Kunstwerk zu beschriften. Im Gegensatz zum modernen Entsorgungscontainer in der Nähe, wo die drei Öffnungen mit Wort und Symbol angeschrieben sind: Pet, Alu, Abfall. – Ein letztes Ceterum censeo: Eine Frühlingsputzete täte der «Steppenfigur» auch gut. Je früher, desto besser.

Minimal-Art-Objekt, sauber beschriftet. Den ausgedruckten Flaneur bitte ganz rechts einwerfen.

10. September 2024 – karl.buehlmann@luzern60plus.ch


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Karl Bühlmann (1948) ist «Der Flaneur». Aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung und engagiert bei Kulturstiftungen. Buchautor und Redaktor der «Luzerner Neuesten Nachrichten» (LNN), von 1989 bis 1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI. (Bild: Joseph Schmidger)