Magdalena Küng, 93-jährig und zufrieden: «Ich war immer so, das ist mein Charakter.»
Gegen das Meckern der Senioren
Zufriedenheit ist eine besonders schöne Gabe. Sie hilft, sich mit dem Unvermeidlichen zu arrangieren. Vielen Betagten scheint diese Gabe abhanden gekommen zu sein. Magdalena Küng weiss, was dagegen zu tun ist.
Von Beat Bieri (Text und Bild)
Unlängst hat der «Tages-Anzeiger» ein berührendes Gespräch zwischen einer Grossmutter und ihrem Enkel, mittlerweile 23 Jahre alt, publiziert. Die Grossmutter hatte den Buben regelmässig in seiner Kindheit betreut, und daraus ist eine grosse, gegenseitige Zuneigung gewachsen. Eine Frage an den jungen Mann lautete: «Was irritiert Sie an der älteren Generation?» Antwort: «Es gibt nichts, was mich wirklich stört. Mir fällt einzig auf, dass Senioren häufig meckern.»
Meckernde, verbitterte Alte – ein Eindruck, der wohl weit verbreitet ist. Die Ursachen sind mannigfaltig: Bei Männern mag das Gefühl eines Bedeutungsverlusts nach der Pensionierung eine Verbitterung nähren. Oft ist bei älteren Leuten das Gerechtigkeitsgefühl verletzt: Habe ich vom Leben erhalten, was ich verdient hätte? Warum trifft diese Krankheit gerade mich? Und selbst Erfolgreiche kann wurmen, dass andere noch erfolgreicher waren in ihrem Leben.
Ein zufriedener Mensch
Magdalena Küng, 93 Jahre alt, beschäftigt sich nicht mit solchen Gedanken. Als sie kürzlich mit ihrem Rollator beim Einkaufen war, wurde sie von einem älteren Herrn angesprochen: Er habe sie schon oft im Quartier gesehen und festgestellt, dass sie immer so zufrieden wirke. Ob sie denn keine Sorgen hätte? Klar, wer hat die nicht. Der Rücken schmerzt zuweilen, der hagere Körper ist stark gebogen und vier Zentimeter geschrumpft. Und dass ihr geliebter Ehemann Hans vor neun Jahren gestorben ist, hat sie auch sehr getroffen. Trotzdem ist sie ein zufriedener Mensch geblieben. Wie schafft sie das?
Ich kenne Magdalena Küng seit meiner Kindheit, seit über 60 Jahren. Die Küngs waren eine junge Familie mit zwei Mädchen im Haus gegenüber an der Ulmenstrasse im Paulus-Quartier. Zwischen unseren Häusern führte eine Tramlinie durch. Seit 1956 wohnt Magdalena Küng in diesem selben Haus. Heute ist sie eine der letzten der damaligen Quartierbewohnerinnen und -bewohner. Besuch bei der einstigen Bauerntochter aus Emmen mit Fragen nach dem Geheimnis ihrer widerstandsfähigen Zufriedenheit: «Ich war immer so, das ist mein Charakter. Ich spreche einfach gerne mit den Leuten, ohne das kann ich nicht sein.» Liebe Magdalena, das reicht mir nicht, da muss doch noch mehr sein. «Richtig kochen und essen, das ich wichtig», sagt die gelernte Köchin, «und jedes Wochenende ein Glas Wein.»
Gespräche mit dem verstorbenen Mann
Auch mit Hans, ihrem verstorbenen Mann, ist sie noch verbunden. Jeden Abend vor dem Einschlafen umarmt sie ihn im Geist, spricht mit ihm, auch über vergangene gemeinsame Erlebnisse. Doch, gestritten hätten sie gelegentlich auch. Aber sie hätten nach der Devise gelebt: Nie einschlafen nach einem Streit, bevor die Sache geklärt ist. Am Schluss dieser abendlichen Treffen mit ihrem Mann sage sie diesem noch: «Hans, komm mich bald holen, ich bin ja ganz allein.» Nun, das stimmt nicht ganz. Die beiden Töchter sind zwar längst weggezogen und selbst Mütter und Grossmütter geworden. Doch eine Tochter telefoniert täglich Punkt 21 Uhr, die andere hilft ihr jeweils am Wochenende bei den Putzarbeiten und der Wäsche.
Das Quartier hat sich gewandelt. Fremde Menschen mit den unterschiedlichsten Hautfarben sind zugezogen. Junge Familien leben in der Nachbarschaft, da sind auch wieder mehr Kinder, das Moosmattschulhaus muss erweitert werden. Das einst unspektakuläre, wenig splendide Quartier erlebt einen Aufschwung, wird hip. Aus dem Hallenbad wurde das Neubad, aus der Brünigbahnlinie ein Veloweg, die Tramschienen liegen längst unter einer Asphaltdecke. So viel Veränderung! So viel neues Leben! Und Magdalena sagt: «Das tut mir gut.»
Fürs Kloster ungeeignet
Sie spricht, sie lacht und dann, etwas ernster, beichtet sie mir noch «eine Sünde»: Ihre fromme Mutter wollte sie, die älteste Tochter, ins Kloster schicken. Dagegen rebellierte das Mädchen, indem es in der Kirche so viel plauderte, bis es dem Pfarrer schliesslich als ungeeignet erschien für die göttliche Aufgabe.
Ich bin schon wieder zu Hause, als mir Magdalena eine Stunde später telefoniert. Sie möchte noch etwas präzisieren: Das Essen sollte man nicht einfach schnell in der Küche verspeisen, sondern mit Bedacht am gedeckten Esstisch, auch wenn man alleine esse. Das Mittagsmahl nicht als blosse Kalorienzufuhr, sondern als tägliche kleine Feier zu fixen Zeiten. Immer um 11.45 Uhr gibt es eine Gemüsebouillon, dann um 12.15 Uhr ein Mittagessen mit Gemüse und etwas Fleisch, letzteres sei sie sich als Bauerntochter halt gewohnt. Dazu noch ein Tipp der gelernten Köchin an die älteren Leute: Nicht einfach nur immer Café complet auftischen, das reiche nicht für gute Gefühle.
9. September 2024 – beat.bieri@luzern60plus.ch