Meinrad Buholzer. Bild: Joseph Schmidiger

Ohne Smartphone ein Niemand

Der visionäre Schriftsteller Ernst Jünger warnte schon 1949 davor: Wer keinen Phonophor hat, wird kaltgestellt. Der Phonophor heisst heute Smartphone, die Gefahren sind geblieben.Von Meinrad Buholzer

Haben wir mal darüber abgestimmt, ob wir unseren Alltag dem Smartphone anvertrauen und es als Allzweckgerät akzeptieren wollen? Wenn ja, muss ich temporär im Koma gelegen haben. Ich erinnere mich, dass ich in den letzten Jahren zu allen möglichen Themen, Ideen, Forderungen, Pflichten und dergleichen an die Urne gerufen wurde. Aber nie wurde ich gefragt, ob das Smartphone meinen Aktionsradius bestimmen soll. Dabei prägt diese stillschweigend zunehmende Delegation unser Leben einschneidender als die meisten Abstimmungsvorlagen.

Immer mehr Firmen, Institutionen, Behörden und Mitmenschen setzen den Besitz eines Smartphones als selbstverständlich voraus. Wer keines hat oder mit dem Touchen und Scrollen und der dahinter versteckten «Logik» unvertraut ist, für den verschliessen sich zunehmend Tore und Wege. Sein Spielraum wird mit jedem Tag kleiner. Und wenn sich die ÖV-Bosse mittelfristig durchsetzen, wird man ohne Smartphone weder mit Bahn noch Bus fahren können; die Jüngsten und Ältesten sollen sich gefälligst auch eines dieser Anhängsel besorgen. Oder sich gleich chippen lassen.

Im schrumpfenden Luftraum fliegen uns in diesem Zusammenhang – vor allem auch von Behörden – permanent Attribute wie «smart», «clever», «intelligent» um die Ohren. Das erinnert mich an ein Zitat des Philosophen Matthew B. Crawford: «Man ist versucht zu sagen: Je dümmer eine Stadtverwaltung, desto eher ist sie bereit, eine intelligente Stadt zu errichten.»

Im Silicon Valley und seinen Kolonien ist man mächtig stolz auf die «Erfindung». Dabei hat Ernst Jünger sie schon vor 75 Jahren angekündigt: Bei ihm hiess das Smartphone Phonophor. Im 1949 publizierten Roman «Heliopolis» beschrieb er das Apparätchen als «ungemeinen Vereinfacher», den man in der Brusttasche trägt, mit dem man telefoniert, zahlt, Wetterprognosen abruft, Volksbefragungen durchführt, das als Zeitung, als Auskunftsmittel, Bibliothek und Lexikon verwendet wird.

Der Phonophor, so Jünger in seiner Utopie oder Dystopie, habe sich «zu einem idealen Mittel der planetarischen Demokratie entwickelt, zu einem Medium, das jeden mit jedem verband. Die Gegenwart der alten Volksversammlung, des Marktes, des Forums war hier auf den Planeten ausgedehnt, ja über ihn hinaus ...» In jedem Augenblick könnten Orts- und astronomische Zeit, Länge und Breite, Wasserstand und Wetter abgefragt werden. «Ersetzt Kennkarte, Pässe, Uhr, Sonnenuhr und Kompass, nautisches und meteorologisches Gerät. Vermittelt automatisch die genaue Position des Trägers an alle Rettungswarten bei Gefahren zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft. Verweist im Peilverfahren an jeden gewünschten Ort. Weist auch den Kontostand des Trägers (…) aus und ersetzt auf diese Weise das Scheckbuch bei jeder Bank und jeder Postanstalt und in unmittelbarer Verrechnung der Fahrkarten auf allen Verkehrsmitteln. Gilt auch als Ausweis…» Und so weiter.

Dann macht Jünger zwei brisante Hinweise: Unschätzbar sei das Gerät für die Polizei, weil immer feststellbar sei, wo man sich befindet (in China Realität). Und: «Dem früheren Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte entsprach in diesem Zustand die Einziehung des Phonophors, die Streichung aus dem Koordinatensystem.» Ohne Smartphone ist man kaltgestellt, die Existenz ausgelöscht – der Handylose ist der Papierlose der Zukunft.

Was Jünger noch entging: Nicht die Polizei oder der Staat sitzen heute am längeren Hebel, sondern die Techfirmen, die uns mit diesen Must-haves «beglücken». Sie entscheiden, wie sie funktionieren, wozu man sie brauchen kann und wozu nicht, sie zapfen alle Informationen ab und wissen über jeden unserer Schritte – und bald auch über jeden unserer Gedanken – Bescheid. Ohne Rechenschaftsbericht gegenüber der Bürgerschaft! Die Behörden bieten ihnen Hand, lagern ihre Dienste aus und machen sich selbst überflüssig. Nochmals Crawford: Für einen «gutartigen Autoritarismus», so schreibt er, würden wir einen Teil Demokratie preisgeben.

Selbstverständlich versichern uns diese Konzerne ihrer Integrität. Am Herzen liegt ihnen unser Wohl. Nichts Unlauteres haben sie im Sinn. Und selbstverständlich wird alles anonymisiert. Ach ja? 2018 publizierte die «New York Times» eine unabhängige Studie über die Lokalisierung angeblich anonymer Datensätze mittels Smartphone-Apps: «Anhand der von der ‹Times› ausgewerteten Datenbank (…) können die Bewegungen von Personen in verblüffendem Detail bis auf wenige Meter genau verfolgt werden, und in einigen Fällen werden die Daten mehr als 14'000-mal am Tag aktualisiert.» Dazu zitierte die Zeitung den demokratischen Senator Ron Wyden: «Lokalisierungsinformation kann intimste Details aus dem Leben eines Menschen verraten – ob er einen Psychiater aufgesucht hat, ob er an einem Treffen der Anonymen Alkoholiker teilgenommen hat, mit wem er ausgeht.»

Noch Fragen? Das Smartphone kennt die Antwort bereits!

15. Juli 2024 – meinrad.buholzer@luzern60plus.ch
 

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten (LNN). 1975–2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten – der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.