Cécile Bühlmann. Bild: Joseph Schmidiger

Auswüchse des Gigantismus

Von Cécile Bühlmann

Meine Schwester lebt seit 50 Jahren in Palermo. Im Juni habe ich sie wieder einmal besucht und für einige Zeit bei ihr und meinem Schwager gewohnt. Ihre Wohnung befindet sich zuoberst in einem alten Palazzo direkt am Hafen. Von ihrer kleinen Dachterrasse aus hat man einen wunderbaren Blick auf den Hafen und die umliegenden Berge, eine Idylle. Diese wird aber jeden Tag getrübt, wenn sich morgens gigantische Kreuzfahrtschiffe – zwei pro Tag – durch die enge Hafeneinfahrt zwängen. Moderne Schiffe haben Platz für bis zu 6000 Passagiere.

Weil die Schiffe auch im Hafen ihre Systeme wie Klima- und Kühlanlagen, Unterhaltungs- und Reinigungstechnik in Betrieb halten müssen, lassen sie die Motoren laufen und verbrauchen so Unmengen von Treibstoff. So steigen denn in Palermo den ganzen Tag schwarze Abgaswolken aus den Schiffskaminen auf und verpesten die Luft. Man weiss heute, dass sich die Schadstoffe aus den Abgasen von Kreuzfahrtschiffen schädlich auf die Gesundheit der lokalen Bevölkerung auswirken und Ursache von Krebs- und Kreislauferkrankungen sind.

Das zweite Problem ist die Masse der Tausenden von Gästen, die sich wie ein grosser Strom in kürzester Zeit über Palermo ergiessen. So stehen denn an der Hafeneinfahrt jedes Mal Dutzende von Cars, Taxis und Pferdekutschen bereit, um die Leute abzufangen, die nicht in der Lage sind, zu Fuss in die Altstadt zu gehen. Das verursacht jedes Mal ein riesiges Verkehrschaos in einer ohnehin schon sehr verkehrsgeplagten Stadt. An den touristischen Hotspots werden dann die unzähligen Riesengruppen in Kolonnen vorbeigeschleust, man erkennt sie an den Farbbändeln, die sie um den Hals tragen, falls jemand verloren gehen und den Weg zum Schiff nicht finden sollte …

Als wir nach unserer Wanderung auf den Monte Pellegrino mit dem Ortsbus in die Stadt zurückfuhren, kamen wir auf der schmalen Bergstrasse kaum voran, weil wir unzählige Cars voller Kreuzfahrttouristen ausweichen mussten, die schnell auf den Berg hinauf wollten, um ein paar schöne Bilder zu schiessen. Für mehr reicht die Zeit nicht, es muss alles schnell gehen, denn am späten Nachmittag verlassen die Schiffe den Hafen und entschwinden am Horizont. Der Spuk für heute ist vorbei, morgen beginnt er von neuem.

«Diese Art von Tourismus hat keinen oder zumindest nur einen sehr geringen wirtschaftlichen Mehrwert für lokale Gemeinschaften. Sie kaufen keine Lebensmittel, besuchen keine Bars und Restaurants, geben nichts für Konzerte, Theater und Museen aus, übernachten nicht in örtlichen Hotels. Und die Kreuzfahrtgesellschaften tun alles, um ihre Kunden an Bord des Schiffes zu halten, damit sie dort ihr Geld ausgeben.» Das sagt der emeritierte Professor Svein Larsen von der Universität Bergen. Er hat mehrere Jahre lang das Verhalten von Kreuzfahrtreisenden untersucht.

Noch nicht gesprochen habe ich vom gigantischen Verbrauch von Frischwasser von 226 Liter pro Person und Tag und von den Lebensmitteln, die bis zu einem Drittel weggeworfen werden. Foodwaste lässt grüssen. Noch nicht gesprochen habe ich von der beschämenden Ausbeutung des Personals, das meist aus armen philippinischen Unterschichten, deren Alltag geprägt ist von Überstunden, miesen Löhnen, Isolation und Abhängigkeiten.

Fazit: Das ist unter keinem Titel eine nachhaltige Form des Tourismus. Den Einheimischen bleibt ausser schlechter Luft, Verkehr und Gedränge nicht viel übrig. Das geht nicht nur Palermo so, sondern allen Städten, die von Kreuzfahrtschiffen heimgesucht werden. Kein Wunder, dass der Protest der lokalen Bevölkerung überall zunimmt.

Was geht uns das als Binnenland Schweiz an? Sehr viel, denn einer der grössten Eigner von Kreuzfahrtschiffen sitzt in Genf, die MSC Cruises. Und im Schnitt unternehmen rund 150'000 in der Schweiz Wohnhafte eine Kreuzfahrt pro Jahr und geben dafür zirka 235 Millionen Franken aus, Tendenz steigend. Es werden bis zum Jahr 2026 weltweit 39 Millionen Menschen eine Kreuzfahrt buchen. Diese werden in immer grösseren Schiffen immer billiger angeboten. Aber einen hohen Preis bezahlen die Umwelt, das Personal und HafenanwohnerInnen. Ich fürchte, dass die Reisenden oben auf den Decks deswegen kaum das schlechte Gewissen plagt.

29. Juni 2024 – cecile.buehlmann@luzern60plus.ch


Zur Person
Cécile Bühlmann ist in Sempach geboren und aufgewachsen. Sie war zuerst als Lehrerin, dann als Beauftragte und Dozentin für Interkulturelle Pädagogik beim Luzerner Bildungsdepartement und an der Pädagogischen Hochschule Luzern tätig. Von 1991 bis 2005 war sie Nationalrätin der Grünen, zwölf Jahre davon Fraktionspräsidentin. Von 1995 bis 2007 war sie Vizepräsidentin der damals neu gegründeten Eidg. Kommission gegen Rassismus EKR. Von 2005 bis 2013 leitete sie den cfd, eine feministische Friedensorganisation, die sich für Frauenrechte und für das Empowerment von Frauen stark macht. Von 2006 bis 2018 war sie Stiftungsratspräsidentin von Greenpeace Schweiz und von 2008 bis 2024 Vizepräsidentin der Gesellschaft Minderheiten Schweiz GMS. Seit 2013 ist sie pensioniert.