«Die Musik hat meinem demenzkranken Mann drei Jahre Lebensqualität geschenkt», sagte Claudine Ferrer-Germiquet im Gespräch mit Beat Bühlmann.
Musik – eine wertvolle Ressource für Menschen mit Demenz
Die Beschäftigung mit Musik verbessert auch bei Menschen mit Demenz die Lebensqualität, ist doch das musikalische Gedächtnis von der Krankheit nicht betroffen. Dies zeigte die dritte Fachtagung für Musikgeragogik zum Thema Musik und Demenz an der Hochschule Luzern – Musik.Von Monika Fischer (Text und Bilder)
Die Zahlen lassen aufhorchen: Alle 16 Minuten erkrankt in der Schweiz ein Mensch an Demenz. Schweizweit leben gemäss Alzheimer Schweiz schätzungsweise 153'000 Demenzkranke, im Kanton Luzern über 7000 – grösstenteils zuhause.
Die hohe Zunahme an demenzkranken Menschen fordere neue Berufsfelder heraus, Antworten zu geben auf den Umgang mit Betroffenen und ihren Angehörigen, betonte Andrea Kumpe, Leiterin der Weiterbildung Musikgeragogik an der Hochschule Luzern – Musik an einer Fachtagung Ende April 2024. Direktor Valentin Gloor freute sich, mit dem Studiengang mit CAS-Abschluss einen Beitrag zur Förderung der Lebensqualität der Menschen im hohen Alter zu leisten.
Erinnerungen werden wach
Im Impulsreferat «Das Alter neu denken: Ressourcen statt Einschränkungen, Stärken statt Verletzlichkeiten» ging der eremitierte Professor Andreas Kruse, Heidelberg, vom Gedicht «Noch bist du da» von Rose Ausländer aus. Geschrieben hatte es die Lyrikerin, als sie selber im Pflegeheim lebte. Es gelte, dem Bewusstsein um die eigene Endlichkeit das Leben gegenüberzustellen. Das, was noch möglich ist – und die verbliebene Lebenszeit in dieser Grenzsituation durch das Einbringen von Ressourcen zu nutzen: «Sei, wer du bist, gib, was du hast.» Es könne das durch einen differenzierten Lebensrückblick gewonnene Wissen sein. Oder die Fähigkeit, in Sorgebeziehung zu anderen Menschen zu stehen.
Wer beim gemeinsamen Musikhören oder Betrachten von Kunst auf Menschen mit Demenz eingehe, merke, wie empathiefähig diese geblieben seien. So sei die Musik eine Ressource bei einer Demenzkrankheit, weil beim Anhören bestimmter Musikstücke Erinnerungen wach würden. Bei Verletzlichkeit infolge von Krankheiten seien hohe seelisch-geistige Entwicklungsschritte möglich, wenn es gelinge, sich auf seelisch-geistige Prozesse nach innen auszurichten und offen zu sein für Neues, zum Beispiel im Bereich Spiritualität und Empathie, wobei der Geist nicht auf den Verstand reduziert werden dürfe. So plädierte der Referent für einen umfassenden Sinnbegriff, der durch Musik lebendig gemacht werden kann. Dies zeige sich beispielsweise darin, wie Menschen mit einer demenziellen Erkrankung tanzen würden.
Elixier für das demenzkranke Hirn
Die Ärztin Irene Bopp-Kistler, die zusammen mit Brigitte Rüegger die Memory Klinik am Waidspital in Zürich aufgebaut hatte und leitete, hatte 25 Jahre Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen begleitet. Sie nannte in ihrem Referat die offiziellen Kriterien für eine Demenzkrankheit und gab Einblick in verschiedene Formen von Demenz und deren Auswirkungen für betroffene Menschen und ihre Angehörigen. Für diese könnten Verhaltensauffälligkeiten und völlig verschiedene Sichtweisen belastend sein.
Wenn eine Frau beispielsweise überzeugt sei, dass sie selber kochen könne, bringe es nichts, dagegen zu argumentieren. Vielmehr sei es wichtig, ihren Selbstwert zu stärken mit Worten wie: «Du warst immer eine ausgezeichnete Köchin.» Schmerzlich sei es auch für den Partner oder die Partnerin, wenn der vertraute Mensch da sei und doch ganz fern. Es sei wie ein Abschied ohne Ende.
Enorme Symbolkraft
Menschen mit Demenz seien ein Spiegelbild des Umfeldes, Musik könne helfen bei der Spiegelung, denn: «Die Würde kann keinem Menschen genommen werden, auch nicht einem Demenzerkrankten, solange ihn das Gegenüber in seinem veränderten Sein annimmt und versteht.» Menschen mit Demenz hätten dieselben Bedürfnisse wie wir alle nach Akzeptanz, Sinnfindung, Liebe, und sie möchten verstanden werden. Zu diesem Verstehen könne die Musik helfen. Das musikalische Gedächtnis bleibe auch bei einer Demenzkrankheit bewahrt. Unser Leben sei eine Reise mit wichtigen musikalischen Ereignissen, positiven wie negativen. Gewisse Lieder hätten unseren Lebenslauf geprägt und dadurch eine enorme Symbolkraft. Musik könne die Sinne und das autobiografische Gedächtnis stimulieren, Emotionen wachrufen und Wohlbefinden auslösen. So könne sie ein Weg sein zur eigenen Identität, ein Weg zueinander.
In diesem Sinn sei Musik eine enorme Ressource für Menschen mit einer Demenz, was wissenschaftlich bewiesen sei. Die Referentin erzählte von ihren Erfahrungen im «Weischno-Chor» für Menschen mit und ohne Demenz, den sie mitgegründet hatte. Es sei erstaunlich mitzuerleben, wie ein betroffener Mensch, der oft unruhig sei und sich nicht mehr konzentrieren könne, im Chor anderthalb Stunden konzentriert mitsinge.
Drei Jahre Lebensqualität geschenkt
Im Gespräch mit Beat Bühlmann erzählte Claudine Ferrer-Germiquet eindrücklich, wie sich ihr demenzkranker Mann durch das Mitspielen auf der Geige in einer Gruppe von Pro Musicante veränderte habe. Ihm seien dadurch drei Jahre Lebensqualität geschenkt worden. Er sei dadurch ein anderer Mensch geworden. Auch ihr habe es enorm gutgetan.
Im Podiumsgespräch betonte Anke Franke, Heimleiterin der Maria-Martha-Stiftung in Lindau, wie wichtig es für demenzkranke Menschen sei, eine Beschäftigung zu haben und dazu zu gehören. Sie berichtete, vom Projekt des rollenden Plattenspielers: Mitarbeitende gehen mit Singles zu den Bewohnerinnen und Bewohnern und lassen sie selber auswählen, was sie hören möchten. Dies führe zu guten Gesprächen, hätten doch viele eine Affinität zu Musik. Auf die Frage, ob dies bei knappem Stellenschlüssel möglich sei, meinte sie: «Wo ein Wille ist, findet man einen Weg.»
Netzwerk aufbauen
Andrea Kumpe hat an der Hochschule Luzern – Musik den Ausbildungsreich Musikgeragogik aufgebaut. Als Vizepräsidentin der Gesellschaft Musikgeragogik Schweiz möchte sie dem spezialisierten Fachbereich einen Wert geben und ein Netzwerk aufbauen. Musikgeragogin Andrea Gmür hat sich als Pionierin das Ziel gesetzt, das Angebot in verschiedenen Institutionen aufzubauen. Irene Bopp freut sich besonders, wenn ältere Frauen und Männer, die lange nicht mehr gesungen haben, spüren, dass sie noch eine gute Stimme haben.
Miriam Scherer, Programmleiterin Gesundheit und Alter Kanton Luzern, und Mirjam Müller-Bodmer, Leiterin Fachstelle für Altersfragen Stadt Luzern und Präsidentin von Alzheimer Luzern, stellten die Angebote ihrer Organisationen vor, mit deren Kooperation die Fachtagung durchgeführt wurde.
Im Gespräch mit Beat Bühlmann berichteten die Fachfrauen über ihre Erfahrungen und die Bedeutung der Musikgeragogik (v.l.): Andrea Kumpe, Anke Franke, Irene Bopp-Kistler und Andrea Gmür.
Stichwort Musikgeragogik
Musikgeragogik ist eine Ausbildung für die musikalische Arbeit mit älteren und alten Menschen. Sie ermöglicht Seniorinnen und Senioren musikbezogene Erfahrungs- und Bildungsprozesse und bewegt sich damit fachübergreifend zwischen Musikpädagogik und Geragogik.
17. Mai 2024 – monika.fischer@luzern60plus.ch