Linguistin Helen Christen. Bild: Joseph Schmidiger
Bestrickender Feminismus
Von Helen Christen
Ungefähr seit meinem dritten Lebensjahrzehnt trage ich Uhren, die sich auf meinem Handgelenk so richtig breit machen, Herrenuhren also. Ührchen, aber auch Rüschen, Spitzen, Blümchen & Co. habe ich zeitlebens mehr oder weniger umschifft. Mit «weiblichen Handarbeiten» schulisch sozialisiert, kamen mir die Geschlechter-Zuschreibungen zunehmend unverschämt vor, insbesondere jene, die für Frauen vorgesehen waren, während mir die Welt der Männer als verriegelte Welt voller Privilegien erschien.
Ich bin in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, in ein bestimmtes Milieu und mit einem bestimmten Körper geboren worden. Nichts davon habe ich mir ausgesucht, dies alles aber als meine unverrückbaren persönlichen Koordinaten betrachtet. Ich musste mich zum Beispiel mit bloss grau- statt himmelblauen Augen und einer wenig herausragenden Körpergrösse von schlappen 163 Zentimentern abfinden.
Im Unterschied zu Augenfarbe und Körpergrösse war und bleibt das Frausein allerdings eine Lebens-Baustelle ganz anderer Grössenordnung. Glücklicherweise geriet im Sinnbezirk des 20. Jahrhunderts die Welt der gottgegebenen natürlichen Ordnung zunehmend ins Wanken. Zugang zu Bildungsinstitutionen, zu politischen Ämtern, zu Teppichetagen usw., Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, auf ein eigenes Bankkonto, auf den angestammten Namen usw.: alles für alle möglich!? Die gloriose Aussicht, dass die Gegebenheiten der Biologie bei der Frage, ob jemand Magistratsperson werden möchte, sich die Fingernägel rosa anmalen darf, vom Häkeln oder vom Schwingsport fasziniert ist, einfach kein Thema mehr sein würden, hat sich (noch) nicht erfüllt.
Hartnäckig hält sich die – für mich: krause – Vorstellung, wonach es einen «eigentlichen», einen «wahren» Wesenskern der Frau, des Mannes gebe. Was flugs den Weg für die Idee ebnet, dass das, was wir zurzeit für weibliche oder männliche Eigenschaften und Charakterzüge halten, nichts geringeres als Ausdruck dieses Wesens und quasi naturgesetzlich in Frauen- oder Männerkörpern festgezurrt sei. Das Strickzeug passt dann eben besser zu der einen als zu dem anderen ...
Gegebenheiten der Biologie? Für einige gilt als Dinosauriersicht auf die Geschlechter-Welt, die Menschen exakt zwei Geschlechterkategorien zuzuweisen. Werden diesen beiden Kategorien – in der einen Sichtweise – Identitäten und Rollen aufgepfropft, verläuft die Zuschreibung – in einer neueren Sichtweise – gerade in umgekehrter Richtung. Vorrangig ist eine Geschlechtsidentität, die vielerlei Formationen jenseits der Zweiteilung vorsieht und sich um den Körper schert oder aber diesen so verändert, dass er mit den Gefühlen im Einklang ist.
Wie genau jedoch geht das, sich zum Beispiel «als Frau fühlen»? Ich – und ich kann nur für mich sprechen – ich weiss es nicht. Was aus dem ganzen Bündel an Empfindungen, Überzeugungen und Ansichten, die mich ausmachen, geht auf das Konto meines Frauseins? Was sind Zins und Zinzeszinsen meines Herkunftsmilieus? Was hat einfach damit zu tun, dass ich ein Mensch bin? Ich weiss es wirklich nicht. Ich weiss aber nur zu gut, wann ich mich als Frau behandelt fühle. Dann nämlich, wenn mit mir als einer Inkarnation des Klischees «Frau» umgegangen wird: Wenn ich in einem Männergremium das Protokoll schreiben soll (= frau ist Zudienerin), wenn ein fachlich völlig unbedarfter Mann mir mein Arbeitsgebiet erklärt (= frau hat keine Ahnung), wenn der Installateur mit mir und nicht mit meinem Mann in Sachen Waschmaschine Augenkontakt aufnimmt (= frau ist gleich Haushalt). Ebenso weiss ich allzu gut, dass mir mein Frausein gefährlich werden kann: Ich verzichte nachts auf eine Joggingrunde und habe auf dem späten Heimweg den Hausschlüssel in Griffnähe.
Ich muss freilich ob meiner etwas skeptischen Zurückhaltung gegenüber der neuen Sicht auf die Geschlechter-Welt eingestehen, dass sie gewissen Anliegen durchaus entgegenkommt. Da sich heutzutage Menschen beliebigen äusserlichen Aussehens Attribute zulegen, die bisher als «weiblich» oder «männlich» galten – und wer weiss: auch jetzt so intendiert sind? – kommt endlich Bewegung in die Sache. Dass sich Frauen ermächtigt haben, Insignien der Männerwelt für sich zu beanspruchen – Fussball, Hosen, grosse Uhren usw. – ist ja nur die halbe Miete.
Den Marianengraben aber von der anderen Richtung her zuzuschütten, «Weibliches» für ausnahmslos alle salonfähig oder gar attraktiv zu machen, das braucht(e) seine Zeit. Eine Begegnung kürzlich im Zug hat diesbezüglich meine Weichen neu gestellt. Ein Mann mittleren Alters trug zu einem gänzlich unspektakulären Männer-Outfit mit grösster Selbstverständlichkeit eine mmh ... Perlenkette. Endlich der entscheidende Steilpass, um meine wunderbaren alten Ührchen aus der Schatulle und dem einschnürenden Bedeutungskorsett zu befreien! Und auch um öffentlich dazu zu stehen, dass ich leidenschaftlich gerne stricke und jedem und jeder nur empfehlen kann, von den blutdrucksenkenden Nebenwirkungen dieser meditativen Tätigkeit zu profitieren, von den bestrickenden Seiten des Feminismus also.
16. Mai 2024 – helen.christen@luzern60plus.ch
Zur Person
Helen Christen, geboren 1956, ist in St. Erhard aufgewachsen und wohnt seit vielen Jahren in Luzern. Bis zu ihrer Emeritierung war sie Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü. Das Interesse an der deutschen Sprache in all ihren Facetten und die Lust an der Vermittlung linguistischen Wissens waren nicht nur die Triebfedern in ihrem Berufsleben, sondern prägen auch den neuen Lebensabschnitt.