«Das ist unsere musikalische Front»: Violinistin Sasha Shepelska mit dem Jugend-Sinfonieorchester Nadiia. Bilder: Filmstills
Charkiw: Mit Musik gegen den Krieg
Musik als eine Manifestation des Überlebens – so könnte man die Essenz des neuen Dokfilmes «Charkiw» umschreiben, der am 11. Februar im Luzerner Kino Bourbaki Premiere feierte (TV-Version auf SRF). Der Film spielt in Charkiw, im polnischen Kattowitz und in Luzern. Der Luzerner Dokumentarfilmer Beat Bieri über seinen neusten Film, der auch ein Musikfilm ist.
Von Beat Bieri
Es war vor zwei Jahren: Als am 24. Februar 2022 Russland seinen Nachbarn, die Ukraine, überfiel, sprachen viele von einer «Zeitenwende». Für einige mag dies pathetisch geklungen haben, doch ich empfand es auch so. Der zuvor für unmöglich gehaltene Krieg mitten in Europa, seine Brutalität und Sinnlosigkeit haben mich erschüttert. Ich musste frühere Gewissheiten revidieren, musste beispielsweise erkennen, dass Pazifismus in gewissen, realen Situationen nicht die Lösung sein kann.
Als mich im Sommer 2023 Urban Frye, der Luzerner Unternehmer, parteilose Politiker und starke Unterstützer der Ukraine, anfragte, ob ich Interesse an einem Dokumentarfilm-Projekt zu «Charkiw und Musik» hätte, war deshalb meine Motivation gross, das noch ziemlich vage Vorhaben zu wagen. Die Voraussetzungen waren einerseits günstig, anderseits recht schwierig. Günstig, weil Urban Frye zahlreiche wichtige Kontakte nach Charkiw hat, da er vielen jungen Geflüchteten aus dieser Stadt im Luzerner Exil eine Unterkunft besorgte. Überdies kennt er Charkiw von mehreren Besuchen im Zusammenhang mit Hilfsprojekten.
Lokale Filmcrew
Doch viele Umstände dieses Unterfangens waren schwierig: Die Zeit war sehr knapp, auch um eine solide Finanzierung auf die Beine zu stellen und um Fernsehsender zu überzeugen. Für mich war zudem klar, dass die Dreharbeiten in Charkiw von einer lokalen Crew geleistet werden sollten. Meiner Ansicht nach sind ukrainische oder russischen Sprachkenntnisse (die ich nicht habe) zwingend notwendig, um sich mit einer Kamera in einer Stadt nahe der Front zu bewegen. Denn fast täglich erinnert der Sirenenalarm dort die Menschen daran, dass jederzeit russische Raketen einschlagen können. Mit der jungen ukrainischen Filmemacherin Mariia Shevchenko konnte eine Produzentin in Charkiw gefunden werden, die durch ihre Arbeit mit den Örtlichkeiten vertraut war und Gefahren einigermassen abzuschätzen wusste.
Die Eltern von Sasha Shepelska vor der zerstörten Schule in Charkiw, wo ihre Tochter zur Schule ging.
Die Karasin-Universität in Charkiw, eine der wichtigsten Hochschulen der Ukraine, verlor durch die russischen Bombardements ein Viertel ihrer Gebäude.
Charkiw ist die zweitgrösste Stadt der Ukraine, nur 40 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt, viele Menschen dort sprechen russisch, fühlten sich Russland verbunden. Doch das hat sich gründlich geändert. Die Beziehungen zu den Verwandten in Russland wurden abgebrochen. Auch jene, deren Muttersprache russisch ist, bemühen sich heute, ukrainisch zu sprechen.
Denn die Erfahrungen der letzten zwei Jahre sind niederschmetternd: Die Stadt geriet gleich zu Kriegsbeginn in einen furchtbaren Bombenhagel. Über 1000 Gebäude wurden zerstört, Hunderte Menschen getötet. Die Russen kamen bis in die Vororte der Millionenstadt, begingen Kriegsgräuel. Ein Drittel der Bevölkerung floh.
Kulturhochburg der Ukraine
Charkiw ist so etwas wie die Kulturhauptstadt der Ukraine, hat über 40 Universitäten, Hochschulen, Musik- und Kunstakademien. Es ist ein erklärtes Ziel Russlands, die ukrainische Identität auszulöschen. Und so werden auch diese Kulturstätten attackiert. Unterricht kann nur noch reduziert stattfinden, etwa als Einzelunterricht oder online.
Und so ist die Musik zu einer neuen Kraft des Widerstands geworden: «Das ist unsere musikalische Front», sagt die junge Violinistin Sasha Shepelska, eine der Protagonistinnen des Films. Sie ist im Mai 2022 aus Charkiw geflohen, nachdem ihr Wohnhaus durch russischen Beschuss beschädigt worden war. Es folgte eine Odysee durch ukrainische und polnische Städte, zusammen mit 45 Freund:innen, vereint im professionellen Jugend-Sinfonieorchester Nadiia, vereint auch durch gemeinsame traumatische Erfahrungen.
Vom Exil im polnischen Kattowitz will das Orchester, bestehend aus den besten Talenten der Ukraine, die Heimatstadt Charkiw unterstützen. Doch Sasha fühlt sich innerlich zerrissen: Einerseits lebt sie nun bei den vom Krieg Verschonten, anderseits weiss sie, dass ihre Familie in Charkiw schreckliche Zeiten durchmacht. Überdies hat sie oft tagelang keinen telefonischen Kontakt mehr mit ihrem Freund, der sich freiwillig der ukrainischen Armee angeschlossen hat und nun an der Front kämpft. «Ich versuche alles zu tun, was in meiner Macht steht, als Mensch und als professionelle Musikerin, sie zu unterstützen», sagt sie.
In Luzern verfolgt der Musikstudent Oleksii Yatsiuk das gleiche Ziel mit seinem ukrainischen Chor Prostir, gegründet im gleichnamigen ukrainischen Kulturzentrum in Littau. Singen in Kriegszeiten? «Natürlich, das ist schwer. Bei Auftritten ruft das oft Tränen hervor, du siehst deine Eltern», sagt Oleksii, «manchmal sind es sogar Freudentränen. Du stellst dir vor, wieder zu Hause zu sein.»
Gemeinsames Konzert im KKL
Im Oktober 2023 traf sich das Orchester mit dem Chor zu einem gemeinsamen Konzert im Luzerner KKL, ein Benefizkonzert zugunsten von Charkiw, organisiert von Urban Frye. Musik als eine Manifestation des Überlebens.
Bei den Dreharbeiten im Sommer blieb Charkiw von russischem Raketenterror verschont, wenngleich fast täglich die Sirenen heulten. Doch mittlerweile attackieren die Russen erneut. Charkiw vermeldet nun wieder Raketeneinschläge mit zahlreichen zivilen Todesopfern. Es ist eine leider anhaltende Tragödie – durch die ergreifende, wunderbare Musik des jugendlichen Sinfonieorchesters und des Chors Prostir wird wenigstens etwas Tröstliches, etwas Hoffnung spürbar.
27. Januar 2024 – max.schmid@luzern60plus.ch