Rosmarie Dormann, ehemalige CVP-Nationalrätin. Bild: Joseph Schmidiger
«Früher hatten wir es besser»
Von Rosmarie Dormann
Vor wenigen Tagen sass ich neben einer jungen Frau im Zug. Ich las die Papierzeitung, sie war mit dem Handy beschäftigt. Wir kamen ins Gespräch, weil sie mich als frühere Politikerin erkannte. Die Frau kam von einer Wahlveranstaltung, an der eine der für den Kantonsrat Kandidierenden ins Publikum rief, dass leider nicht alle Berufstätigen pro Jahr 14 Wochen Ferien hätten wie die Lehrer und Lehrerinnen. Und das habe diese Kandidatin echt missgönnend erwähnt. Meine Platznachbarin ist Lehrerin einer Primarklasse mit 19 Schüler:innen in einer Agglomerationsgemeinde.
Meine Platznachbarin hat sich über die Aussage dieser jungen Kandidatin genervt. Diese habe ja keine Ahnung, wie man heute im Lehrerberuf gefordert sei. Das Unterrichten in der Schule sei heutzutage Schwerarbeit. Sie fühle sich nach fünf Jahren im Lehrerberuf bereits ausgelaugt und überlege sich einen Berufswechsel. Auf meine Frage, was denn für sie im Unterrichten das Belastendste sei, meinte sie, die hohe Anzahl an Schüler und Schülerinnen sei das Eine, die mangelnden Deutschkenntnisse bei den Flüchtlingskindern das Andere. Das mache zwar den Unterricht spannend und interessant, aber sehr herausfordernd. Sie unterrichte Kinder aus verschiedensten Nationen, weisse und schwarze. Dazu seien zwei Kinder schwer in der Wahrnehmung beeinträchtigt.
Ein weiterer Faktor seien die Eltern ihrer Schüler:innen, die ihren Kindern wenig bis keine Hilfe leisten könnten. Eltern, die selbst nie eine Schule besuchen konnten, Eltern die unsere Sprache nicht beherrschen oder Eltern, die voll berufstätig seien und wenig Motivation hätten, am Abend noch mit ihren Kindern zu lernen, was die junge Lehrerin allerdings verstehen kann. Und wenn ihre Kinder nach dem Unterricht nach Hause gehen, warte niemand mit dem Zobig auf sie. Viele Eltern seien doppelt oder dreifach belastet.
Eine Lehrerin für alle Fächer
Ich erwähnte dann, dass ich mit 61 Gspänli die ersten drei Schuljahre im gleichen Klassenzimmer verbracht habe. Nicht alle Kinder hätten einen eigenen Stuhl gehabt. Ich sass zum Beispiel auf dem Spalt von zwei zusammengestossenen Holzbänken. Und wir hatten eine einzige Lehrerin, die alle Fächer unterrichtete, inklusive Zeichnen, Turnen und Religion. Zudem stand diese zufällig ein Jahr vor ihrer Pensionierung, fand aber, dass dieses Schuljahr das Schönste gewesen sei in ihren vierzig Unterrichtsjahren. In der vierten Primarklasse wurde unsere grosse Klasse dann aufgeteilt. Ein neues Schulhaus konnte bezogen werden und nur noch 40 Kinder belegten ein Klassenzimmer.
61 Gspänli: die Primarschulklasse von Rosmarie Dormann. Bild: privat
Selbstverständlich lassen diese zwei erwähnten Unterrichtsverhältnisse keine Vergleiche zu. Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Das Aufwachsen von Kindern damals und heute ist nicht annähernd vergleichbar. Hatten die Familien unserer Klasse damals durchschnittlich sechs Kinder, dürften es heute ein oder zwei sein. War damals der Vater das Haupt der Familie und sorgte für den finanziellen Unterhalt von Frau und Kindern, sind heute in der Schweiz 80 Prozent der Frauen Teilzeit oder voll berufstätig. Zudem verfügen heute in der Schweiz die allermeisten Eltern über neun obligatorische Schuljahre und einen Berufsabschluss. Wer dies nicht vorweisen kann, ist meist als Flüchtling eingewandert.
Grenzenlose Freiheit im Rückblick
Heute ist kaum ein Feld pädagogisch derart umkämpft wie der schulische Unterricht. Die Kinder sind ab dem Kindergarteneintritt bereits gefordert. Sie lernen nicht mehr einfach für die Schule, sondern werden für die Zukunft fit gemacht. Sehr jung müssen sie wissen, in welche Richtung ihre Ausbildung geht. Ist Mathematik oder Musik gefragt. Integrative Förderung oder Gymnasium? Die meisten spielen in der Freizeit ein Instrument oder sind im Fussballclub oder beim Turnen dabei.
Vor zwei Monaten haben wir wieder einmal zu einer Klassenzusammenkunft eingeladen. Leider konnten wir nicht alle 61 Schuelgspänli erreichen. Einige sind verstorben und bei anderen fehlte uns die Wohnadresse. Immerhin konnten von 42 Angemeldeten 23 teilnehmen. 19 mussten sich wegen Corona- oder Grippe-Erkrankung kurzfristig entschuldigen. Als Tischsets kopierten wir die Klassenfoto, so dass beim Essen für Gesprächsstoff gesorgt war. Schliesslich sind wir alle seit mehr als zehn Jahren pensioniert. Trotz dem für heute nicht vorstellbaren Unterricht mit über 60 Schüler:innen im gleichen Klassenzimmer, mit nur einer Lehrerin, sind wir fit gemacht worden fürs Leben. Immerhin sind aus unserer Klasse gleich sechs in den Lehrerberuf eingestiegen, andere haben eine Berufslehre oder ein Studium gemacht. Auch der oder die damals leistungsmässig schwache Schüler:in hat sich dem Leben und seinen Herausforderungen gestellt. Das haben wir an dieser Zusammenkunft mit grosser Genugtuung festgestellt.
Wir waren uns einig, der Schulunterricht ist auch heute nicht allein massgebend für ein erfolgreiches Berufsleben, sondern ebenso stark ist der Wille zur Übernahme von Verantwortung und Ausdauer gefragt. Das stellten wir an der Klassenzusammenkunft im Alter von 75 Jahren mit Überzeugung fest.
Einstimmig herrschte am Tisch die Meinung, wir hätten es damals besser gehabt. Uns stand zwar viel weniger an Materiellem zur Verfügung. Auch war die individuelle Förderung damals ein Fremdwort. Wir wurden alle zu Hause zum Mitarbeiten gebraucht, einige Bauernbuben hatten am Morgen vor Schulbeginn bereits zu Hause Kühe gemolken. Nicht wenige ersetzten in der Oberstufe eine Arbeitskraft zu Hause. Dennoch scheint uns heute, dass die Freiheit von damals grenzenlos war.
Niemand von «damals» möchte mit «heute» tauschen. Aber allen war klar, dass sich die Schule der gesellschaftlichen Entwicklung anpassen muss.
15. März 2023 – rosmarie.dormann@luzern60plus.ch
Zur Person
Rosmarie Dormann, Jahrgang 1947, war während 16 Jahren (1987-2003) Nationalrätin und gehörte der CVP-Fraktion an. Sie zählte zu den profilierten Sozialpolitikerinnen im Parlament und präsidierte unter anderem die Kommission Soziale Sicherheit und Gesundheit. Aufgrund der Wahl in den Nationalrat verlor die ausgebildete Sozialarbeiterin und Mediatorin ihre Anstellung als Amtsvormund der Ämter Sursee und Hochdorf. Nach dem Rücktritt als Nationalrätin präsidierte sie die Bethlehem-Mission Immensee (seit 2017 Commundo) sowie den Verein Traversa, der sich für Menschen mit einer psychischen Erkrankung einsetzt. Die ehemalige Amtsrichterin wohnt in Rothenburg. 1995 wurde Rosmarie Dormann mit dem Fischhof-Preis ausgezeichnet, der von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben wird.