Meinrad Buholzer. Bild: Joseph Schmidiger

Wollen wir die Stolpersteine des Lebens wegdesignen?

Von Meinrad Buholzer

Mit «Blösch» gelang Beat Sterchi 1983 ein fulminantes Debüt. Der Roman über einen spanischen Fremdarbeiter und die Kuh Blösch gab Einblicke in das Leben auf dem Bauernhof, über den Umgang mit Tieren bis ins Schlachthaus. Ein Gotthelf für das 20. Jahrhundert. Jetzt, vier Jahrzehnte später, steht wieder eine Kuh im Mittelpunkt eines Buches: «Lentille» von Urs Mannhart. Aber Lentille ist nicht fiktiv, sie lebt auf einem Bauernhof im Jura, und das Buch ist eine Reportage.

Mannhart ist dabei, als Lentille kalbert – eine Totgeburt. Der Autor vermutet bei Lentille danach eine Depression. Und darum geht es im Buch: Was heisst es, wenn wir Tieren Persönlichkeit, Bewusstsein zugestehen? Mannhart berichtet vom Umgang mit den Tieren auf dem Hof, von deren Individualität. Und weitet dann den Blick in die Agrarindustrie. Auf die Laborversuche, Kühe so zu designen, dass sie den Anforderungen der Industrie entsprechen. Mit anderen Worten: nicht das Haltungssystem dem Tier, sondern das Tier dem Haltungssystem anzupassen.

Darüber spricht der Autor mit der Veterinärmedizinerin Sara Hintze, die in Wien über Nutztiere forscht. Zu den Versuchen, die Tiere so zu modifizieren, dass sie sich nahtlos in die Agrarindustrie einfügen, anderseits auch nicht mehr leiden sollen, fragt sie, «ob wir nicht manchmal ein bisschen etwas Negatives brauchen, um Positives als positiv wahrnehmen zu können»? Ob zu einer Persönlichkeit nicht der Umgang mit negativen Aspekten gehöre, zum Beispiel mit Trauer, Streit. Versöhnung gebe es nur, wenn vorher ein Konflikt war, und das sei wichtig für soziale Beziehungen. Für eine gute Sozialstruktur brauche es vielfältige Persönlichkeiten. So komme es bei Schweinen in homogenen Gruppen oft zu Kämpfen. «Je heterogener die Gruppe, desto klarer ist die Rangordnung. Das ergibt oft sehr viel friedlichere Gruppen.»

Aber unsere Forscher basteln ja nicht nur am Genom der Tiere, sondern auch an dem der Menschen. Krankheiten ausmerzen, Leiden verhindern, langes Leben, gar Unsterblichkeit (eine Horrorvorstellung) – so wird argumentiert. Zu befürchten ist, dass die Manipulation respektive Optimierung des Menschen auf eine öde Monokultur hinausläuft, auf funktionierende, angepasste, pflegeleichte Zombies. Es ist wie bei der künstlichen Intelligenz: Der fehlerhafte Mensch wähnt, den fehlerlosen kreieren zu können. Forscher können durchaus gescheite, angenehme Mitmenschen sein, aber sie sind wie alle Spezialisten auch «Fachidioten». Das heisst: Wenn sie den Menschen designen, dann werden sie ihn so gestalten, wie es ihr Horizont zulässt.

Sie wollen unter anderem den Zufall eliminieren. Der Philosoph Michael Sandel meint, dass die Solidarität der Gesellschaft auch der Einsicht geschuldet ist, dass wir unsere Unzulänglichkeiten und Begabungen dem Zufall verdanken. Wir vermittelten unseren Kindern die Botschaft, dass es wichtig sei, offen, solidarisch, tolerant zu sein – auch gegenüber Menschen, die uns fremd sind. Mit dem Eingriff in das Genom könnte diese Erfahrung eliminiert und die Grundlage des Zusammenlebens erschüttert werden. In einem Interview mit der NZZ hat Andrea Büchler, Präsidentin der Nationalen Ethikkommission, auf diesen Einwand Sandels verwiesen und für das «Recht auf eine offene Zukunft» plädiert: dass man den Lebensweg nicht so festlegen darf, dass das Kind ihn nur noch erfolgreich zu durchlaufen hat.

Es ist ein wichtiges Element der «condition humaine», dass unsere Nachkommen nicht unseren Vorstellungen und Wünschen entsprechen. Wenn wir sie programmieren, berechenbar machen, recht eigentlich züchten, dann ist es vorbei mit der Vielfalt, den Widersprüchen, den Nuancen, den Stolpersteinen, die uns das Leben in den Weg stellt, mit all den Hindernissen, die immer auch eine Chance sind, nachzudenken, zu wachsen, gescheiter zu werden – kurz: Wir würden verlieren, was das Leben anregend, vielfältig und lebendig hält, zugunsten eines abstrakten und totalitären Ideals.

5. September 2022 – meinrad.buholzer@luzern60plus.ch


Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.