Judith Stamm (1934-2022). Sie schrieb viele Jahre auch Kolumnen für Luzern60plus. Archivbild: Joseph Schmidiger
Sie zog den «Charre volle Wyber»
Die grüne alt Nationalrätin Cécile Bühlmann erinnert sich an die gemeinsame politische Arbeit mit der im Juli verstorbenen CVP-alt-Nationalrätin Judith Stamm und würdigt deren grosses Engagement für die Sache der Frau.Von Cécile Bühlmann
Ein grosses Kämpferinnenherz schlägt nicht mehr. Am 14. Juli wollten Judith Stamm, Rosmarie Dormann und ich uns zu unserem regelmässigen Luzerner-alt-Nationalrätinnen-Zmittag treffen. Judith hatte diesen Termin vorgeschlagen, den «14 juillet», wie sie, ganz Politikerin, sagte. Zum Essen erschien sie nicht mehr. Das war das zweite Mal innert kurzer Zeit, dass sie, die stets Zuverlässige, einfach nicht mehr zum vereinbarten Termin erschien. Da wusste ich, dass es schlecht um sie steht. Ein paar Tage später war sie tot.
Judith Stamm war eine Frau, die sich nie scheute, unbequem zu sein. Ihr grösstes und leidenschaftliches Engagement galt der Sache der Frauen. Dafür spannte sie über die Parteigrenzen hinweg mit all jenen Frauen zusammen, die dieses Engagement mit ihr teilten. Ich war eine von ihnen. Sei es im Kampf für das Recht der Frauen auf gleichen Lohn, für die Mutterschaftsversicherung, für das Splitting und die Betreuungsgutschriften in der AHV, für die Fristenregelung, gegen die Vergewaltigung in der Ehe und gegen häusliche Gewalt, für mehr Frauen in Politik und Wirtschaft: Wir zogen immer am selben Strick. Ich ging mit ihr ein grosses Wegstück gemeinsam, unsere Zusammenarbeit war von gegenseitiger Wertschätzung und Vertrauen geprägt. Diese Zeilen sind eine persönliche Würdigung dieser aussergewöhnlichen Frau.
Ich lernte Judith Stamm in den frühen 1970er-Jahren persönlich kennen. Das erste Mal begegnete sie mir in ihrer Funktion als Polizeiassistentin, ich war damals eine junge Lehrerin in Reussbühl. Sie kam ins Schulhaus Fluhmühle, um einen meiner Schüler zu befragen, der in einen Diebstahl verwickelt war. Ihr Name war mir damals schon ein Begriff, war sie doch nach der Einführung des Frauenstimmrechtes 1971 als eine der ersten Frauen für die CVP in den Luzerner Grossen Rat (heute Kantonsrat) gewählt worden. Mich zog es nach den Jahren als Aktivistin der Frauenbewegung auch in die Politik, ich trat den Grünen bei, und Judith beschritt den Weg bei der CVP weiter. Dort wurde sie nicht selten heftig angefeindet. Sie beschrieb mir einmal, wie das für sie als frisch gewählte Nationalrätin war, wenn sie manchmal als Einzige der CVP-Fraktion aufstand. Damals gab es noch keine elektronische Abstimmungsanlage. Sie schilderte, wie sie die vernichtenden Blicke gewisser Männer der CVP-Stahlhelmfraktion wie Messer im Rücken spürte, wenn sie die Meinung der Partei nicht teilte. Ihr Mut und ihre Unerschrockenheit, für das einzustehen, wovon Judith überzeugt war, und Liebesentzug und Karriereeinbrüche in Kauf zu nehmen – sie hätte nämlich absolut das Zeug zur Bundesrätin gehabt –, das imponierte mir stets an Judith.
Judith Stamm erwarb sich im Laufe der Zeit ein sehr hohes Ansehen, auch in ihrer Partei. Für sie war es ein Zeichen der Anerkennung, dass sie von der CVP-Fraktion 1996 als Kandidatin für das Nationalratspräsidium vorgeschlagen wurde, nachdem ihr diese zehn Jahre zuvor die Unterstützung ihrer Bundesratskandidatur verweigert hatte.
Judith Stamm war eine begnadete Netzwerkerin. Kaum im Nationalrat, gründete und präsidierte sie das «Parlamentarierinnentreffen», bei dem in jeder Session die Frauenrechtlerinnen aus allen Parteien zusammenkamen, um gemeinsame Strategien für gleichstellungsspezifische Anliegen auszuhecken und abzusprechen. Als sie wegen des Nationalratspräsidiums keine Zeit mehr fand, bat sie mich, dieses Amt zu übernehmen, das ich dann bis zu meinem Rücktritt im Jahr 2005 ausübte.
Die Verbindlichkeit und Treue zu ihren Weggefährtinnen war legendär. So begleitete sie Josi Meier während deren Nationalratskandidatur oft mit einem «Charre volle Wyber» an die Wahlveranstaltungen. Etwas ganz Ähnliches erlebte ich später selbst, als Judith Stamm Nationalratspräsidentin war. Da hatte sie das Privileg, eine Staatslimousine mit Chauffeuse zur Verfügung zu haben. Ab und zu nahm sie diesen Dienst in Anspruch, aber sie fuhr nie mit halbleerem Auto nach Bern, sondern sammelte uns anderen Luzernerinnen ein – Josi Meier, Rosmarie Dormann und mich –, und so fuhr dann im Jahr 1996 öfter ein «Charre volle Wyber» gemeinsam von Luzern nach Bern. Darin fanden angeregte und oft auch sehr heitere Debatten statt, bei denen nicht selten einer unserer patriarchalischen Parlamentskollegen sein Fett abbekam. Ich erinnere mich ausserordentlich gern an diese Fahrten.
Es war auch Judith, die nach dem Tod von Josi Meier im Jahr 2006 anregte, dass es ein Josi-Meier-Gedenktreffen geben solle. Und so organisierten Judith Stamm, Romy Dormann und ich immer ums Geburtstagsdatum von Josi Meier herum in Luzern ein Treffen ihrer langjährigen engen Wegbegleiterinnen. Es kamen immer gegen zwanzig Frauen aus allen politischen Parteien zusammen, um bei Speis und Trank Erinnerungen an die gemeinsam ausgefochtenen Kämpfe in Bern auszutauschen. Nach zehn Jahren mussten wir die Treffen aufgeben, weil immer mehr der Ehemaligen aus Altersgründen nicht mehr nach Luzern reisen konnten.
Jetzt ist Judith Stamm nicht mehr unter uns. Ich behalte sie als bedeutende Frau der Schweizer Frauengeschichte, leidenschaftliche Debattiererin und Mitkämpferin für die Sache der Frauen in Erinnerung. Judith Stamm wollte keine öffentliche Abschiedsfeier. Schade, dass wir uns von der grossen Netzwerkerin, die in ihrem Leben so viele Frauen zusammenbrachte, nicht gemeinsam verabschieden können.
8. August 2022 – cecile.buehlmann@luzern60plus.ch