Prof. Urte Scholz: «Rituale lassen uns innehalten und bedienen viele Bedürfnisse.» Foto: zvg
«Rituale bringen Sicherheit und können Stress reduzieren»
Warum lieben und brauchen wir vertraute Handlungen? Urte Scholz (46), seit 2013 Lehrstuhlinhaberin am Psychologischen Institut der Universität Zürich und spezialisiert auf angewandte Sozial- und Gesundheitspsychologie, gibt Auskunft.Interview: Eva Holz
Frau Scholz, worin liegt der Unterschied zwischen Routine und Ritual?
Urte Scholz: Routinen sind erlernte und sich wiederholende Handlungen. Es sind immer wiederkehrende Abläufe, die den Alltag und das Zusammenleben, zum Beispiel in der Familie, erleichtern, weil sie Strukturen schaffen, Orientierung geben und nicht jedes Mal wieder diskutiert werden müssen. Ein konkretes Beispiel wäre hier das gemeinsame Abendessen. Rituale hingegen sind immer absichtlich und im Gegensatz zu Routinen mit einer tieferen Bedeutung versehen. Nehmen wir erneut das Beispiel des Familienessens: Neben den routinierten Abläufen (ein Elternteil kocht, die Kinder decken den Tisch) kann dem Familienabendessen auch ein besonderer Wert zukommen: Alle tauschen sich darüber aus, was sie am Tag erlebt haben, wie es ihnen geht und so weiter. Für jene, die es noch praktizieren, ist das Tischgebet gewiss ein typisches, wichtiges Ritual.
Und schliesslich zu den ganz gewöhnlichen Gewohnheiten...
Gewohnheiten sind automatisierte Abläufe von Handlungen, über die man während der Ausführung nicht nachdenken muss und die man sich häufig nicht einmal vornimmt. Die Funktion von Gewohnheiten liegt darin, dass man schnell etwas erledigen kann. Ein klassisches Beispiel ist das Schalten beim Autofahren. Gewohnheiten, Routinen und Rituale schliessen sich aber gegenseitig nicht aus. Vieles fliesst ineinander über.
Es gibt also keine richtigen und falschen Rituale?
Falsche Rituale gibt es eigentlich nicht, sie sind ja selbstgewählt und haben immer etwas Sinnstiftendes. Und Gewohnheiten sind grundsätzlich auch nicht falsch, sondern zunächst einmal sehr funktional und ressourcenschonend. Aber natürlich gibt es Gewohnheiten, also automatisierte Handlungen, wie der Griff zum Handy oder zur Tüte Chips, die man sich abgewöhnen und gegen andere ersetzen könnte oder vielleicht möchte.
Warum braucht der Mensch Rituale?
Rituale verleihen Stabilität, Sicherheit, Kontrolle und Geborgenheit, sie können dadurch auch Stress reduzieren. Je nachdem, wenn zum Beispiel andere Personen eingebunden sind in die Rituale, können sie auch weitere positive Dinge aktivieren wie soziale Unterstützung und Wohlbefinden.
Haben Rituale also auch etwas Gesundheitsförderndes – für die Seele, den Körper, den Geist?
Das ist durchaus möglich. Rituale lassen uns innehalten und bedienen viele Bedürfnisse. Und das kann unser Wohlbefinden fördern.
Kulturell-gesellschaftliche Rituale wie Weihnachten, das Hochzeitsfest oder die Beerdigung haben eine lange Tradition und werden gleichwohl individuell ausgestaltet. Worin liegt das Verbindende für die Menschen?
Die Wichtigkeit und das Verbindende ergibt sich immer durch die Bedeutung, die den Ritualen zugeschrieben wird. An Weihnachten gibt es vielleicht eine familieninterne, gemeinsame Vorfreude auf das traditionelle Familiengericht, auf den Ablauf an Heilig Abend mit Bescherung oder ähnliches. Schon die Vorfreude auf die Rituale kann verbinden, da ist es auch ganz gleich, ob das Ritual eine lange gesellschaftliche Tradition hat oder ob es ein ganz individuell gestaltetes Ritual einer einzelnen Familie ist. Weiter können Rituale selbst die Verbindung zu anderen beinhalten. Am Beispiel von Beerdigungen: Einerseits geht es dabei natürlich um den Abschied von der verstorbenen Person, aber andererseits auch um die geteilte Trauer der Hinterbliebenen und die gegenseitige Unterstützung im Umgang mit der Trauer.
Kommen Ritualen in Krisenzeiten besondere Bedeutung zu? Ich denke an die Kriegsflüchtlinge, die ihre Heimat Kopf über Hals verlassen mussten oder an die lange andauernde Corona-Zeit.
In Krisenzeiten sind die Aspekte der Orientierung, Stabilität, Kontrolle und Sicherheit äusserst relevant, weil durch eine Krise das alles in Frage gestellt ist. Wenn durch Rituale kleine Inseln geschaffen werden können, in denen diese Bedürfnisse befriedigt werden, ist das sehr hilfreich.
Pflegen Sie selber ein Lieblingsritual?
Mir sind unsere familieninternen Rituale zu Geburtstagen oder bestimmten Feiertagen sehr wichtig und das geniesse ich immer sehr.
Dieses Interview ist im Magazin «active&live» erschienen.