Meinrad Buholzer. Foto: Joseph Schmidiger

Auch Impffreunde haben die Vernunft nicht für sich gepachtet

Von Meinrad Buholzer

Dies vorausgeschickt: Ich bin geimpft, zwei Mal, bald geboostert. Trage bis heute im Grossen und Ganzen die Massnahmen mit, obwohl mich nicht alle überzeugen. Leugne das Virus nicht. Glaube nicht an Verschwörungen. Gehöre (auch dank Pensionierung) zu jenen Privilegierten, die unter den eingeschränkten Freiheiten nicht sehr gelitten haben.

Mit dem Getöse der lauten Minderheit kann ich nicht viel anfangen. Aber manchmal geht mir auch die vorlaute Mehrheit auf die Nerven. Die selbstgerechte Neigung, nur noch eine Meinung gelten zu lassen und die Gegner pauschal in eine suspekte Ecke zu stellen, riecht fatal nach Monokultur und Unfehlbarkeitsdogma. Überhaupt werde ich misstrauisch, wenn alle in die gleiche Richtung rennen. Der ohnehin bedrohliche Verlust an Vielfalt und Mehrdeutigkeit (Ambiguität) in unserer Gesellschaft hat durch die Pandemie noch einmal einen empfindlichen Rückschlag erlitten.

Es begann schon vor der nationalen Impfwoche. Da haben Leute, die sich vernunftgeleitet und aufgeklärt geben, vorgeschlagen, Impfunwillige mit einem Stück Pizza oder einer Gelati zu ködern. Damit blieben sie unter dem Niveau, das sie beanspruchen. Der ins Visier genommenen Zielgruppe attestierten sie, käuflich zu sein und erst noch billig. Und lieferten einen Grund zur Resistenz. In Anlehnung an eine Covid-Wortschöpfung von 2020 würde ich von Covinfantilismus sprechen; weil er für eine Mentalität steht, die für alles immer gleich belohnt werden will.

Mit der Impfwoche ging es, kaum anspruchsvoller, weiter. Die Seite, die stets mit Experten zur Stelle ist, sich auf Wissenschaft und Rationalität beruft, wollte die Skeptiker unter anderen mit einer Schlagersängerin animieren. Oder mit einem Radiomoderator, der im letzten Jahr all jene, die trotz Lockdown wandern gingen, als «Tuble» beschimpft hatte (dabei taten sie genau das Richtige). Als letztes Aufgebot die Ex-Bundesräte, die uns aus Zeitungsinseraten anlachten. Ehrenwerte Personen, ohne Zweifel, aber: Glaubt jemand, dass ausgerechnet sie die obrigkeitskritischen Zweifler überzeugen? Und die BAG-Konzerte! Zugegeben, es war fies von den Impfgegnern, Tickets zu ordern und dann nicht zu nutzen (aber dann war es auch fies von Trump-Gegnern, die im Wahlkampf zur gleichen Methode griffen und ihn blamierten; damals freute ich mich). Ehrlich: Ein vom BAG organisiertes Konzert hat für mich den Reiz von Teleshopping für Faltencreme. Kunst, die sich einspannen lässt für Kampagnen, verliert ihre Relevanz, sie wird PR. Diese unbedarfte BAG-Aktionswoche war ein absehbarer Flop – mit viel zum Fenster hinausgeworfenem Geld.

Um es in Erinnerung zu rufen: Es sind mit der Pandemie Massnahmen ins Visier gerückt, die durchaus an den Grundlagen unserer Zivilisation ritzen. Wenn bestimmt wird, wer sich im privaten Rahmen treffen darf, dann ist das keine Bagatelle. Wen ich in meinen vier Wänden empfange, das entscheide ich, und ich werde an der Haustür kein Zertifikat kontrollieren. Gastfreundschaft ist ein zu elementares Element einer Zivilisation, um es en passant über den Haufen zu werfen. Und auch wenn ich mich ohne Bedenken zur Impfung entschlossen habe, so kann ich mir vorstellen, dass jemand zu einem anderen Schluss kommen kann. Die Verfügung über meinen Körper zähle ich ebenso zu den grundlegenden Rechten. (Nur eine der unzähligen Kehrtwendungen im öffentlichen und offiziellen Diskurs: Ein Impfzwang, im ersten Corona-Jahr noch entschieden in Abrede gestellt, ist nun plötzlich salonfähig.) 

Zum (heiteren) Abschluss noch dies: In der Umfrage einer Zeitung zum Impfen sagte der Epidemiologe Marcel Tanner: «Die Impfung verhindert sehr wirksam, dass die Geimpften nicht schwer krank werden.» – Schon mal was gehört von doppelter Verneinung? Sowohl Tanner wie auch die Redaktion und das Korrektorat, wenn es das überhaupt noch gibt, offenbar nicht. Ihnen sei Karl Valentin zur Konsultation empfohlen: «Nichts Genaues weiss man nicht.» Zur vernünftigen Rede gehört, dass am Schluss das herauskommt, was man eigentlich sagen will. Wenige nur beherrschen die Kunst der allmählichen Verfertigung des Gedankens beim Reden.

18. Januar 2022 – meinrad.buholzer@luzern60plus.ch


Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die «Luzerner Neuesten Nachrichten» LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten – der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.