Alleinsein – durchaus kombiniert mit Langeweile – führt oft zu besonderer Kreativität

Glücklich allein: Geht das? 

Jeder dritte Haushalt ist ein Single-Haushalt. Einige ziehen das Alleinleben bewusst vor. Viele bleiben nach einer Trennung oder Verwitwung allein – gewollt oder ungewollt. Doch wie zugange kommen im Alleinschritt? Der Weg ist nicht einfach, aber er kann in neue Richtungen führen.Von Eva Holz (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Meine Schwiegermutter wurde mit 63 überraschend Witwe. Nach beinah 40 Jahren Eheleben wohnte sie von einem Tag auf den andern allein in ihren vier Wänden. Laut ihr gab es damals zwei Möglichkeiten, „entweder hadern oder vorwärtsschauen.“ Sie entschied sich für Letzteres. Gerne erzählt sie, was ihr geholfen hatte, im Alltag wieder Fuss zu fassen: „Die Enkelkinder und Pro Senectute.“ Heute ist sie 90 und pflegt noch immer regelmässigen Kontakt zu ihren „Wanderfrauen“, welche sie in der Senioren-Organisation kennenlernte und mit denen sie über Jahrzehnte vieles unternahm.

Es schleckt keine Geiss weg: Unsere Gesellschaft ist auf Paare ausgerichtet. Alleinstehende werden nicht so locker zu Tisch gebeten. Als Gastgeberleute sollte man hin und wieder selbstkritisch darüber nachdenken. Umgekehrt fällt es auch nicht allen Singles leicht, Einladungen zu geben. Heraustreten und selber etwas anreissen braucht extra Energie, aber es lohnt sich. „Wer gibt, erhält zurück“, bringt es eine meiner Freundinnen auf den Punkt. Sie durchlitt vor 20 Jahren eine Scheidung und engagierte sich gleichwohl umgehend weiter für ihr Umfeld. „Die Verarbeitung der Krise ist primär eine Frage der Persönlichkeit», erklärt die emeritierte Psychologieprofessorin Pasqualina Perrig-Chiello in einem Bericht der Zeitlupe. Offene Naturen würden eine Scheidung besser bewältigen als ängstliche, stark auf sich selbst bezogene und weniger gefestigte Menschen. 

Neue Liebe – zu sich selber

 „Männer lecken nach einer Trennung deutlich länger die Wunden als ihre Ex-Gattinnen, erklärt Markus Theunert von Männer.ch, dem Dachverband der Schweizer Männer- und Väterorganisation. „Emotional und sozial sind Männer vielfach abhängiger, das macht sie verletzlicher“, so Theunert. Fast ihr ganzes Leben lang hätten sie sich über den Beruf definiert, dort ihr soziales Umfeld gehabt. „Mit der Pensionierung fällt dies alles auf einen Schlag weg.“ Würden sie dann auch noch von der Frau verlassen, stürzten gleich beide Pfeiler ein. Statistisch erfasst ist, dass Männer sich nach einer Trennung eher „Richtung neue Liebe“ entfalten, während Frauen die Liebe zu sich selbst entdecken. Folgerichtig bleiben Frauen eher Single und geben ihrem Lebensweg eine neue Richtung. 

In den grossen europäischen Städten lebt jede zweite Person allein. In der Schweiz ist es jede dritte. Immer mehr darunter sind älter als 64. Nicht überraschend deshalb, dass Alleinstehende – Frauen wie Männer – gemeinschaftliches Wohnen in Betracht ziehen. Sie interessieren sich für durchmischte neue Überbauungen, Alters-WGs oder Clusterwohnungen – Modelle, bei denen Zusammensein, Teilen und Rückzug sich verbinden lassen.

Ungeahnter Schub an Energie

Alleine auf die andern zuzugehen, fällt nicht immer auf Anhieb leicht. Eine Bekannte, welche mit 45 Jahren ihren Gatten an Krebs verlor und fortan mit zwei Teenagertöchtern allein zurechtkommen musste, erzählt: „Nach dem Tod meines gewandten, extravertieren Mannes zweifelte ich, ob ich bei den Leuten auch ohne ihn noch willkommen sei“.  Im engsten Freundes- und Familienverbund funktionierte es zwar weiterhin, aber ihr sei  bewusst geworden, dass sie im erweiterten Bekanntenkreis selbst etwas zur Freundschaftspflege beitragen musste. Schliesslich hat ihr die neue Lebenssituation einen Entwicklungsschub verpasst. Die heute 65jährige ist überzeugt: „Ich hätte wohl weniger aus mir gemacht ohne diese Zäsur“. Sie erlernte eine neue Sportart, erarbeitete sich mit über 50 einen Master im Sozialbereich und stieg wieder intensiv ins Berufsleben ein. „Was schwierig ist, kann einen weiterbringen.“ Seit ihre Töchter ausgezogen sind, fühlt sie sich noch freier. Zweimal durfte die Witwe in den vergangenen 20 Jahren eine längere Beziehung geniessen. Über die Chance, eine solche aufzubauen, hat sie eine klare Meinung: „Nur wer allein glücklich sein kann, ist bereit für eine Partnerschaft“. 

Alleinsein als wertvolle Phase

Vielleicht könnte man sogar weitergehen und sagen:  Nur wer alleine glücklich ist, kann generell glücklich sein. Dazu zählen wohl jene Singles, die aus Überzeugung nicht in einer Paarbeziehung leben – also Individualistinnen und Individualisten, die sich selbst verwirklichen möchten,  sich nach niemandem richten und mit niemandem streiten mögen, sich aus dem Innersten heraus unabhängig und frei fühlen. Phasen des Alleinseins können sich für jeden Menschen als gut, ja wichtig erweisen. Wer auf sich selbst gestellt ist, muss eigene Ideen und Lösungswege entwickeln. Womöglich ist es die richtige Zeit, darüber nachzudenken, worauf man stolz  und wofür man dankbar ist, welches der persönliche Lebenstraum ist und was einen wirklich glücklich oder zumindest zufrieden macht. Und nicht zu vergessen: Alleinsein – durchaus kombiniert mit Langeweile – führt oft zu besonderer Kreativität. Alleine können wir uns voll und ganz auf uns konzentrieren. Daher ist Alleinsein ein wichtiges Element bei der Selbstfindung und Selbstakzeptanz.   

(Dieser Text erschien auch in der Juli-Ausgabe des Magazins „active&live“.)

 

Zahlen und Fakten aus der Schweiz 

75,6 Prozent der 18- bis 80-Jährigen lebten 2018 in der Schweiz in einer Beziehung; die meisten davon in einem gemeinschaftlichen Haushalt. 

24,4 Prozent waren im Umkehrschluss alleinstehend bzw. Singles. Dabei ist der Single-Anteil bei den 18- bis 25-Jährigen mit 53,6 Prozent am höchsten und bei den 35- bis 44-Jährigen mit 14,9 Prozent am niedrigsten; in den höheren Altersgruppen steigt er wieder kontinuierlich an. 

46 Prozent der Singles lebten 2018 bereits länger als drei Jahre allein. 13 Prozent hatten noch nie eine Beziehung.

1970 Seither hat sich die Zahl der Scheidungen nach mehr als 30 Ehejahren verdreifacht. 

2/3 In zwei von drei Fällen schmeissen bei den über 65-Jährigen die Frauen den Bettel hin. 

96% der Frauen wollen nach der Scheidung mit keinem neuen Mann mehr zusammenleben. 

51 In diesem Alter ist die Scheidungsrate am höchsten – bei Männern und bei Frauen.

Quellen: Statista Research Department (2021) und (Sonntagszeitung 2020)

23.07.2021 – eva.holz@luzern60plus.ch