Karl Bühlmann  Foto: Joseph Schmidiger

Der Flaneur ist unterwegs (21)

Tatort Luzern

Von Karl Bühlmann  

Was haben sich die Männer der Nomenklaturkommission gedacht, als sie ehedem dem orthogonalen Netz von Strassen des Hirschmattquartiers die Namen verteilten? Luzernischer Patriotismus für die Querstrassen: Murbacherstrasse, Habsburgerstrasse, Waldstätterstrasse. Vom elsässischen Murbach kamen die Mönche und gründeten das Kloster im Hof, die Habsburger konnten ferngehalten werden, zu den Waldstätten am See wollte das Fischerstädtchen gehören. Alteidgenössisches Schlachtgetöse für die parallel zur Hirschmattstrasse verlaufenden Achsen: Dornacherstrasse (Sieg im Schwabenkrieg, Dornach 1499). Winkelriedstrasse (Hat der Opferheld überhaupt gelebt?). Morgartenstrasse (Gemetzel bei Morgarten 1315). Sempacherstrasse (Abschlachtung des habsburgischen Ritterheeres beim Hof Widercheer oberhalb Sempach, 1386).

In dieser Strasse komme ich gerade am Haus vorbei, die Nummer bleibt ungenannt, wo einst die Privatbank Brunner ihre krummen Dinger drehte. Bis 1970, als der Luzerner «Gatsby» keinen Ausweg mehr sah, auf dem Höhepunkt einer rauschenden Party eine Zyankalikapsel zerbiss und sich theatralisch aus dem Leben verabschiedete. Ernst Brunner, der seine Karriere als Verkäufer von Veloversicherungen begann, liebte grosse Auftritte (kleinstädtischer Dimension), war Opernliebhaber und wusste, dass die Katastrophe im klassischen Bühnenstück dem fünften Akt vorbehalten ist. Der feine Herr, von der Luzerner Kunstszene geschätzter Gönner, hinterliess einen Schuldenberg von zwölf, nach anderen Quellen zwanzig Millionen Franken – und schlimmer: Viele Luzerner, auch kleine Kunden, die um ihr Erspartes betrogen waren. Verwaltungsratspräsident der Bank war der geachtete Divisionär a.D. Max Waibel, wichtiger Nachrichtenoffizier im Zweiten Weltkrieg, Leiter der Nachrichten-Sammelstelle «Rigi» im «Schweizerhof». Er war beteiligt an Geheimverhandlungen, welche im Frühjahr 1945 die Kapitulation der deutschen Truppen Italien beschleunigten. Waibel sah sich vom Bankdirektor arglistig getäuscht, um seine Offiziersehre betrogen und empfand tiefe Schuld gegenüber den betrogenen Bankkunden. Aus Scham erschoss er sich am 20. Januar vor fünfzig Jahren auf dem Dietschiberg.

Am Bundesplatz, unverdientermassen zu diesem Namen gekommen, steht seit 1933 auf der Verkehrsinsel ein Toiletten- und Trafogebäude, im Bauinventar als «schützenwert» eingestuft. 2016 verkündeten Luzerner Architekten, das Gebäude in eine Kaffeebar umwandeln zu wollen und nächstens eine Baueingabe für das luzernische «Café Fédéral» einzureichen. Fünf Jahre sind vorüber und das angeblich architektonische Schmuckstück ist noch immer Lokation des «Strasseninspektorats 15» und auf der anderen Seite öffentliche Gratis-Bedürfnisanstalt. Zwei Türen für die Herren, einmal mit einem roten und einmal mit einem schwarzen «Manöggel» markiert, einmal Beine geschlossen, einmal angewinkelt. Die längst überlebte luzernische Apartheid für (konservative) Rote und (liberale) Schwarze lebt an stillen Örtchen weiter. Oder sind es Symbole der Transgender-Philosophie? Wer sich seiner geschlechtlichen Orientierung nicht ganz sicher ist, sollte sich am Bundesplatz das Geschäft verklemmen. Der Eingang Damen ist mit einer blauen Figur gekennzeichnet, blau ist auch die Figur auf der Plakette des verantwortlichen Reinigungsdienstes. Merksch öppis?

Seit vier Jahren ragen vis-à-vis des gerundeten «Cervelat-Palastes», rechts vor der Langensandbrücke, 20 Stahlgerüst-Türme in die Höhe. Es ist kein Manifesta-Freiluft-Kunstwerk, sondern ein Baugespann für das Projekt «Luegisland», welches zwei Gebäude von 32 und 35 Metern vorsieht. Vor zwei Jahren wäre Baubeginn gewesen, kürzlich wurde die zweite Klage der Einsprecher von der Stadt abgewiesen, doch die gestrengen Ortsbildschützer gehen wohl an die nächste Instanz. So bleibt die kiesige, unkrautige Brache weiterhin als Treiber der Biodiversität und als Wunde im Stadtbild erhalten. Wann tritt «Familie Kiesplätzli» die langjährige Zwischennutzung an?

Beim Betreten der Langensandbrücke wird, wer in die Luft guckt, gewarnt: max. Belastung Trottoir 4.0 kN/m2. 400 kg/m2. Die Gefahr der Überlastung ist gering, seitdem der Bundesrat Abstandhalten verordnet hat. Überhaupt: Wie viele Dicke haben auf einem Quadratmeter Platz? Der Flaneur blickt von der Brücke auf ein Dutzend Gleise herunter, das Bild erinnert ihn an einen Zentralfriedhof. Am südlichen Brückenkopf hängt, durchsichtig verpackt, ein Brief. «Help» lese ich auf dem Umschlag, «Du bist nicht allein». Es geht mir gut und ich lasse das Angebot am Geländer zurück. Beim Überqueren der Unterlachenstrasse frage ich mich, weshalb die verwandte Breitenlachenstrasse fast einen Kilometer von hier entfernt ist. Wer weiss heute noch vom EHC Breitlachen, der als verschworener Quartierverein vor sechzig Jahren für Eishockey-Fieber in Luzern sorgte und im Cup gegen HC Lugano nur 3:4 verlor?

Foto: Gewerbegebäude. Erbaut von Carl Mossdorf 1933

In den Fensterbändern des 2006 erbauten, horizontal strukturierten CSS-Glaspalastes spiegelt sich die biedere Mietwohnungszeile der «Baugenossenschaft Pro familia» von gegenüber. An der Tribschenstrasse 51 macht der Flaneur vor dem «Gewerbegebäude» eine Denkpause. Dem Bau, ein Werk von 1933 des Architekten Carl Mossdorf, droht der Abbruch, weil die Besitzerin des Grundstücks, die nachbarliche CSS-Krankenkasse, sich vergrössern will. Der Bau, der solchen Plänen im Weg steht, ist äusserlich heruntergekommen, wie ein maroder Schuppen aus einem «Tatort» mit Peter Faber aus Dortmund. Das Luzerner Kantonsgericht hat dem Abriss zugestimmt. Zwei Verbände, die beide den Titel «Heimatschutz» im Namen tragen, wehren sich für den «Pionierbau der frühen Moderne».

Der benachbarte Grundeigentümer J. Sch. hat offeriert, das umstrittene Gebäude um 60 Meter auf sein Grundstück zu verschieben, auf eigene Kosten. Das wäre doch eine Win-win-Situation für alle. Der Flaneur stellt sich vor: Stadt und Kanton machen Nägel mit Köpfen, ringen der Versicherungsgesellschaft die Einwilligung zur Verschiebung des Objekts ab. Mit dem Argument: Im zum Akronym gestutzten ursprünglichen Namen der Krankenkasse verbirgt sich «Christlich-Sozial». Auf der Homepage der Firma steht: Die CSS wurde 1899 unter dem Namen Christlich Soziale Schweiz (CSS) als Selbsthilfeorganisation und als Antwort auf die Enzyklika „Rerum Novarum“ von Papst Leo XIII. gegründet, der die Proletarisierung der Arbeiter thematisierte. Die CSS verstand ihr Wirken damals als konkretes christliches Engagement. An der Aufgabe hat sich prinzipiell nicht viel geändert. – Aha, denkt sich der Flaneur, der auch bei dieser Selbsthilfeorganisation versichert ist, das muss ich mir bei der nächsten Prämienerhöhung merken!

Als die Träumerei im bisigen Durchzug auf Höhe des VBL-Hauptsitzes sich verzogen hat, kurvt der Stadtwanderer in den Geissensteinring ein. An der Kreuzung, gegenüber dem FC Kickers-Sportplatz, befand sich einst die Tribschen-Postfiliale. Sie war in den Sechzigerjahren der Schauplatz des ersten und wahren Luzerner Tatorts der Neuzeit. Vorstadt-Casanova Rico Züsli aus Emmenbrücke, der mit seinem grossen Amerikanerschlitten protzte, überfiel die Post am helllichten Tag. Er machte ordentlich Kasse und floh, um die Spuren zu verwischen, minutiös geplant, mit geklautem Auto und Boot und der Beute über den See. Für Luzern ein spektakuläres Ereignis wie der Great Train Robbery zwischen Glasgow und London ein paar Jahre zuvor. Der Tribschen-Coup war nicht der einzige Raubüberfall Züslis. Die mit ihm befreundete Marlis Ambühl, die zu viel von den krummen Touren wusste, verschwand eines Tages auf Nimmerwiedersehen. Die Polizei kam Räuber Rico auf die Spur. 1969 verurteilte ihn das Luzerner Kriminalgericht wegen «Mord, Raub, Diebstahl, Zuhälterei und Gewässerverschmutzung (!)» zu Lebenslänglich.

Wie der Schweizer Regisseur Markus Imhoof 1974 den Film «Fluchtgefahr» drehen wollte, arbeitete er zuvor eine Zeitlang als Gefängniswärter in der Strafanstalt Thorberg. Dort sagte der inhaftierte Rico Züsli zum Regisseur: Was nützt mir der schönste Postüberfall, wenn ich ihn nicht erzählen darf? Das wäre wie ein Film von Ihnen, den niemand sieht.

Letzte Station ist Haus Nr. 11 bei der Abzweigung in die Weinberglistrasse. Es gehört der Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern. An der fensterlosen Stirnwand der Häuserzeile hat Hans Erni 1936 in einem grossen und anschaulichen Bild den genossenschaftlichen und sozialen Wohnungsbau thematisiert. Er malte die Etappen der Planung und Vorbereitung, die zur Realisierung des sozialen Bauvorhabens auf dem ehemaligen Weinberg-Terrain führten. Als kompositorisches Element verbindet eine schlanke Wendeltreppe am rechten Bildrand die übereinander angeordneten Bildstreifen und führt den Blick nach oben. Sie ist Symbol für den sozialen Aufstieg, den dieses Bauvorhaben ermöglicht: Unten ein Paar mit Kind, das auf eine Wohnung wartet. Der Mann sitzt auf einer Kiste, auf die der Künstler sein Monogramm gesetzt hat. Hinter ihm ein Schrank, auf dem Kopfsteinpflaster ein Wagen für den Hausrat. Die Szene darüber zeigt das Architekturbüro der Genossenschaft. Rechts stehen die drei grossen Holzlettern A, B und L für die Allgemeine Baugenossenschaft Luzern. Am Zeichentisch in der Mitte sitzt Architekt Otto Schärli senior; links von ihm der Präsident der Baugenossenschaft, Hans Stingelin; ganz links Baumeister Johann Bolli.

Wandbild: Zweck und Ziel der Baugenossenschaft» | Hans Erni, 1936

Habe ich ein solches Dreigespann nicht auf dem Hinweg schon gesehen? Richtig, am Anfang der Tribschenstrasse, eine Werbeplane mit drei behelmten und lächelnden jungen Bauleuten, einmal (vermutlich) Frau, zweimal Mann. Wir gestalten die Zukunft ist ihre Botschaft. Das Gleiche hatten sich auch die drei Herren selig auf dem Wandbild am Weinbergli 11 ungesagt gedacht.

Zur Person: 
Karl Bühlmann (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der ‚Luzerner Neuesten Nachrichten', 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.

karl.buehlmann@luzern60plus.ch