Am letzten Vortrag der «Lebensreise 2023 – Endlichkeit als Herausforderung» las die Schriftstellerin und Ärztin Melitta Breznik aus ihrem berührenden Buch «Mutter».

Für eine Alterskultur, die nicht auf den Körper reduziert ist

Auch die beiden letzten Vorträge der «Lebensreise 2023» stiessen auf sehr grosses Interesse. Am 25. September sprach Irene Graf mit Melitta Breznik über die Wochen, in denen diese ihre Mutter beim Sterben begleitet hatte. Am 19. September hatte Professor Andreas Kurse in seinem Vortrag «Wer weiss, wie nah mir mein Ende (BWV 27)» eine Alterskultur gefordert, die der seelisch-geistigen Dimension des Menschen mehr Raum gibt.

Von Monika Fischer (Text und Bild)

Für Andreas Kruse ist J.S. Bach ein Vorbild, weil er bis ins hohe Alter trotz Schmerzen und körperlichen Einschränkungen an seinen Werken gearbeitet hatte, um mit seiner Musik die Menschen zu beglücken. Damit dies die zahlreichen Anwesenden im Marianischen Saal auch emotional nachvollziehen konnten, unterbrach er seine Ausführungen immer wieder am Klavier mit Musik von Bach (Liste der gespielten Stücke) sowie mit Gedichten wie z. B. von Andreas Gryphius: «Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen. Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen. Der Augenblick ist mein, und nehm’ ich den in acht, so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.» Mit dem Dichter betonte der Referent die Bedeutung des Augenblicks im Alter. Die Auseinandersetzung mit dem, was im Moment sei, gebe im Zusammenhang mit damit verbundenen Erinnerungen die Möglichkeit, die eigene Person, sich selbst, in ihrer seelisch-geistigen Dimension besser zu erfassen.

Die seelisch-geistigen Kräfte nehmen zu
Wie schon in der Antike sei es auch heute wichtig, sich nicht nur mit der materiellen, sondern auch mit der geistig-spirituellen Welt auseinanderzusetzen und ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass es mehr gibt als alles Materielle. Durch seine jahrzehntelangen Erfahrungen als Gerontologe sei er überzeugt: Auch ein Mensch mit einer Demenz habe eine geistige Dimension, gehe doch der Geist als das Wesenhafte, das uns umgibt, weit über unser Denken hinaus. Im Kontakt mit Menschen mit einer Demenz sei es entscheidend, zur Ruhe zu kommen und sich mit dem Geist des Gegenübers einzuschwingen.

Der Referent zeigte auf: Während die körperlichen Fähigkeiten im Alter zurückgehen, nehmen die seelisch-geistigen Kräfte zu. Wenn es dem Menschen gelinge, sich in diesen seelisch-geistigen Prozess in Verbindung mit den Emotionen einzufinden, werde er fähig, anders mit den Verletzlichkeiten und körperlichen Einbussen fertig zu werden. Dies sei eine bedeutsame Voraussetzung für eine gute Auseinandersetzung mit dem Lebensende und die Vorbereitung aufs Sterben. «Ich bin überzeugt, dass es etwas gibt, das über das Lebensende hinausgeht», betonte Andreas Kruse, «was spürbar wird, wenn man sich in die andere Dimension begibt, wo man sich getragen fühlt, was Hoffnung vermittelt.»

Palliativkultur neben Intensivmedizin
Mit der vorwiegenden Konzentration auf den Körper komme in der aktuellen Gesellschaft der hochaltrige Mensch zu kurz. Der Gerontologe forderte deshalb eine andere kulturelle Betrachtung des Alters. Es gelte, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen es hochaltrigen Menschen vergönnt ist, immer wieder zu ihrem Innern, ihrer seelisch-geistigen Dimension zu finden, wobei sie spüren, dass es etwas gibt, das über die materielle Existenz hinausgeht. Die Politik müsse deshalb neben der Intensivmedizin vermehrt auch eine Palliativkultur entwickeln.

Wichtig sei, dass der Mensch unabhängig von seinem Bildungsstand auch im Alter einen Lebenssinn findet, indem er etwas für andere tun könne. Indem z. B. alte Menschen ihre wertvollen Lebenserfahrungen an die junge Generation weitergeben können. Ziel des Lebens sei gemäss dem antiken Philosophen Plotin der Tod, der Rückgang der Seele in den Weltgeist. Es gelte deshalb, bewusst in den Abschied von der Welt einzuwilligen. «Beschenken sie zuvor die Welt, und lassen sie sich von der Welt beschenken!», rief Andreas Kruse zum Abschluss in den Saal.

Sterben braucht Zeit
Bei ihrer Lesung aus dem Buch «Mutter» erzählte die Ärztin und Schriftstellerin Melitta Breznik im Hotel Beau Séjour in einer sinnlichen Sprache von den rund sieben intensiven Wochen, in denen sie ihre Mutter als Pflegerin beim Sterben begleitet hatte. Gleichzeitig war es für sie ein Blick in die Familiengeschichte mit zwei Weltkriegen und eine Auseinandersetzung mit ihrer persönlichen Prägung. Im Gespräch mit Irene Graf erzählte sie, wie sie zuvor ihre Mutter um die innere Erlaubnis gebeten habe, über diese doch sehr intime Zeit zu schreiben. Dies geschah aus dem Gedanken heraus, es könnte für Menschen in einer ähnlichen Situation eine Hilfe sein.

Nach der Diagnose hatte sie ihrer Mutter versprochen, ihr das Sterben zuhause zu ermöglichen und sie dabei zu begleiten. «Es war sehr anstrengend und schwierig, ich hatte meine Kraftgrenzen überschätzt», meinte sie rückblickend und riet Betroffenen in einer ähnlichen Situation, sich bei einer Erschöpfung über den letzten Willen hinwegzusetzen. Mit Unterstützung hatte sie es doch geschafft, weil der Prozess nicht zu lange gedauert hatte.

Rückblickend war Melitta Breznik froh, dass sie mit der Mutter den Abschied mit Gesprächen und Ritualen bewusst gestaltet hatte und sogar die Abschiedsfeier bis ins letzte Detail besprechen konnte. «Es war irgendwie makaber, hat mir und dem Bruder den Abschied jedoch sehr erleichtert.» Sterben brauche Zeit, Geduld und Offenheit. Oft konnte sie nichts anderes tun, als ohne viele Worte anwesend sein und zu spüren, was der sterbende Mensch brauche. Eine solche Begleitung wünsche sie am Lebensende auch für sich.

Filme im Stattkino
Vier Filme im Stattkino werden den von der Stadt Luzern organisierten Zyklus «Lebensreise 2023 – Endlichkeit als Herausforderung» abschliessen. Die Reihe beginnt am Mittwoch, 11. Oktober 2023, 16.00 Uhr, mit dem Film «Tout s'est bien passé» von François Ozon. Dieser erzählt von André, der nach einem Schlaganfall seine Tochter bittet, ihn dabei zu unterstützen, seinem Leben ein Ende zu setzen, da er nicht dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen sein will. Soll die Tochter seinen Wunsch akzeptieren? Oder versuchen, seine Lebenslust wieder zu wecken?

Die Reihe wird mit drei weiteren Filmen zur Thematik der Endlichkeit fortgesetzt, jeweils mittwochs um 16 Uhr.

26. September 2023 – monika.fischer@luzern60plus.ch