Cécile Bühlmann, ehemalige Nationalrätin der Grünen. Bild: Joseph Schmidiger
Erinnerungskultur in Bayreuth und Luzern
Von Cécile Bühlmann
Ich war diesen Sommer in Bayreuth, es war ein Etappenort auf unserer Velotour im bayrischen Franken. Wie in Luzern die Kapellbrücke, ist in Bayreuth die Besichtigung des Festspielhauses auf dem Grünen Hügel ein Must. Dort finden jeden Sommer die Richard-Wagner-Festspiele statt, die den Opern Wagners gewidmet sind. Es ist der Wagnersche Wallfahrtsort schlechthin. Beim Aufstieg durch den Festspiel-Park stiessen wir unvermittelt auf unübersehbare grosse Tafeln, die wir neugierig anzuschauen begannen. Sie sind Teil der Ausstellung «Verstummte Stimmen, die Vertreibung der Juden aus der Oper 1933 bis 1945». Die Tafeln informieren darüber, dass unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland ein erbittert geführter Kulturkampf eingesetzt hatte, der die als klassisch verstandene deutsche Kultur vor der Zerstörung durch die als zersetzend empfundene Kunstmoderne und deren Träger – die Juden – retten wollte. Einer der wichtigsten Stichwortgeber für diese Auseinandersetzung war Richard Wagner. Mit seiner Schrift «Das Judentum in der Musik» hatte er den Juden als Fremden unter den Deutschen vorgestellt, der unfähig sei, deren Kultur zu verstehen und eigene Kunst zu schaffen. Nur nachsprechen, nachkünsteln könne der Jude.
Richard Wagner sah nicht nur die Musik und die deutsche Kultur in Gefahr sondern die ganze Welt durch den «zersetzenden Einfluss des Judentums im Zustand der Degeneration». Nach seinem Tod übernahm Cosima Wagner die Bayreuther Festspiele und setzte Wagners Ideen gnadenlos um: Sie vertrieb sämtliche jüdischen Musikerinnen, Dirigenten, Schauspielerinnen aus Bayreuth und besetzte alle Rollen mit «Deutschen», Bayreuth wurde «judenfrei». An all die Vertriebenen wird im Festspiel-Garten von Bayreuth mit Fotos und Beschreibung ihres Schicksals erinnert, nicht wenige von ihnen endeten in Konzentrationslagern. Eine eindrückliche und berührende Dauerausstellung – und das im Brennpunkt des Wagnerschen Kults, neben einer riesigen Büste Richard Wagners.
Was uns sehr beeindruckte, ist nicht nur, dass diese Ausstellung seit über zehn Jahren dauerhaft im Festspiel-Park von Bayreuth gezeigt wird, sondern auch die absolut eindeutige Stellungnahme im Fazit: «Durch die Diffamierung und Ausgrenzung jüdischer Künstler, durch den Missbrauch der Festspiele wie durch die Mitwirkung in den wichtigsten antisemitisch-antidemokratischen Organisationen nach 1914 haben die Erben Wagners den Boden vorbereitet für die im Dritten Reich staatlich durchgeführte Vertreibung jüdischer und politisch untragbarer Künstler.» 1917 war der ganze Wagner-Clan Mitglied der rechtsradikalen, ultranationalistischen Vaterlandspartei geworden. Das alles erfuhren wir auf dem Festspielgelände von Bayreuth.
Zurück in Luzern wollte ich wissen, wie das Wagner-Museum mit diesem schwierigen Erbe umgeht. Die üble antisemitische Hetzschrift «Das Judentum in der Musik», auf die in der Bayreuther Ausstellung verwiesen wird, hat Wagner in seiner Zeit auf Tribschen in ihre definitive Form gebracht und unter seinem Namen veröffentlicht. Ich sah das Traktat in einer Glasvitrine liegen, der Audioguide wies kurz auf Wagners Antisemitismus hin – sonst nichts. Ich fragte nach, ob man lesen könne, was er da genau geschrieben habe. Ob man diese denkwürdige Schrift denn nicht digitalisieren und den Besucher:innen so zugänglich machen könne? Das sei mangels Ressourcen nicht möglich, erfuhr ich. Auf mein Insistieren hin, dass ich den genauen Wortlaut der Hetzschrift Wagners lesen möchte, zeigte mir die Museumsleiterin das Buch «Richard Wagners Das Judentum in der Musik, eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus» von Jens Malte Fischer. Darin ist die Hetzschrift wortgetreu abgedruckt. Wenn ich den Text also lesen wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als das Buch für 48 Franken zu kaufen.
Luzern geht ganz anders mit dieser dunklen Seite Wagners um als Bayreuth. Das hat mich sehr irritiert. In der Luzerner Ausstellung erfahre ich ganz viel heile Welt, auch viel Banales und Nebensächliches über Richard und Cosima Wagner, zum Beispiel, dass die Sammlung in jüngerer Zeit mit Wagners Schreibpult, Cosimas Nähkästchen und einem Holzflügelaltar ergänzt werden konnte. Was sagt das über die Luzerner Erinnerungskultur im Hinblick auf den Antisemitismus? Da es sich beim Wagner-Museum um eine städtische Einrichtung handelt, steht letztlich diese in der Pflicht. Es stände Luzern gut an, sich dieser Sache gründlich anzunehmen. Warum nicht die Tatsache, dass Wagner in Luzern dieses antisemitische Machwerk geschrieben hat, zum Anlass nehmen, um im oder neben dem Wagner Museum einen Erinnerungsort zu schaffen, an dem sich ähnlich wie in Bayreuth die Luzerner Zuständigen dezidiert vom Antisemitismus Wagners distanzieren? Über die Form dieses Erinnerns müsste man diskutieren. Bestandteile der Erinnerungskultur können Texte, Bilder, Denkmäler, Gebäude, Zusammenkünfte des Gedenkens oder Rituale sein.
Wir erleben in der Schweiz gerade jetzt eine neues Stück Erinnerungskultur, was die NS-Zeit betrifft. In Bern soll ein zentraler Erinnerungsort in Form eines Schweizer Memorials für die Opfer des Nationalsozialismus entstehen und im Kanton St. Gallen ist ein grenzüberschreitender Vermittlungs- und Vernetzungsort zur Erinnerung an die zahlreichen Opfer der Verfolgung an den Schweizer Grenzen und an die vielen mutigen Helferinnen und Helfer in Planung.
Luzern mit seiner Geschichte als Musikstadt würde sich ideal als Erinnerungsort eignen. Mit einer kritischen öffentlichen Haltung gegenüber dem Antisemitismus des gefeierten Komponisten Wagner könnte sich Luzern prominent in die Erinnerungsorte einreihen und so seinen Teil zur Erinnerungskultur beitragen. Tribschen wäre dafür der ideale Ort, nicht nur wegen Wagner. Am 25. August 1938 leitet Arturo Toscanini ein Gala-Konzert auf Tribschen, für das ein Ad-hoc-Orchester aus den besten Musikern der Zeit zusammengestellt wird, das sogenannte «Eliteorchester». Es gilt als die Geburtsstunde der Internationalen Musikfestwochen Luzern, der Vorläuferin des Lucerne Festival. Luzern kam die unheilvolle politische Situation entgegen, weil Künstler wie Arturo Toscanini, Fritz Busch oder Bruno Walter wegen ihrer politischen Gesinnung oder ihrer Herkunft weder in Bayreuth noch in Salzburg auftreten wollten oder durften. Aber in Luzern waren sie willkommen. Wenn das nicht genug Stoff für einen Erinnerungsort ist! Die Musikstadt Luzern könnte dabei nur gewinnen. Worauf wartet Luzern eigentlich noch?
25. September 2023 – cecile.buehlmann@luzern60plus.ch
Zur Person
Cécile Bühlmann ist geboren und aufgewachsen in Sempach. Sie war zuerst als Lehrerin, dann als Beauftragte und Dozentin für Interkulturelle Pädagogik beim Luzerner Bildungsdepartement und an der Pädagogischen Hochschule Luzern tätig. Von 1991 bis 2005 war sie Nationalrätin der Grünen, zwölf Jahre davon Präsidentin der Grünen Fraktion. Von 1995 bis 2007 war sie Vizepräsidentin der damals neu gegründeten Eidg. Kommission gegen Rassismus EKR. Von 2005 bis 2013 leitete sie den cfd, eine feministische Friedensorganisation, die sich für Frauenrechte und für das Empowerment von Frauen stark macht. Von 2006 bis 2018 war sie Stiftungsratspräsidentin von Greenpeace Schweiz. Sie ist seit langem Vizepräsidentin der Gesellschaft Minderheiten Schweiz GMS. Seit 2013 ist sie pensioniert.