Im Rahmen der von der Stadt Luzern organisierten Lebensreise 2023 «Endlichkeit als Herausforderung» sprach der Theologe, Ethiker und Gerontologe Heinz Rüegger über die Herausforderungen im Blick auf das selbstbestimmte Sterben heute. 

Ein Mehr an Freiheit und Verantwortung

Beim selbstbestimmten Sterben geht es um viel mehr als um den assistierten Suizid, zeigte Heinz Rüegger am milden Septemberabend im bis auf den letzten Platz besetzten Marianischen Saal in Luzern auf. Die medizinischen Möglichkeiten mit lebensverlängernden Massnahmen geben dem Menschen eine Freiheit, die oft überfordert.

Von Monika Fischer (Text und Bild)

Der Wunsch nach Selbstbestimmung beim Sterben habe zugenommen, sagte Heinz Rüegger. Dies verbänden die Menschen in der Schweiz meistens mit dem kontroversen Thema des assistierten Suizids rund um Exit. Dabei geht es um die freiwillige Selbsttötung eines Menschen, die bei der Vorbereitung und Durchführung von einer externen Person oder Organisation begleitet wird. Der eigentliche Akt gehe von der Person aus, die das tödliche Mittel selber einnehmen muss.

Vorwiegend Alterssuizide
Gemäss Statistik sei die Anzahl der assistierten Suizide leicht angestiegen: von 1,4 Prozent aller Todesfälle im Jahr 2015 auf 2 Prozent im Jahr 2021. Assistierte Suizide seien vorwiegend Alterssuizide, sind doch 87% der Personen, darunter mehr Frauen als Männer, über 65 Jahre alt. Da die betroffenen Menschen nach guter Überlegung und Bewertung wohlgeordnet aus dem Leben scheiden möchten, könne dies auch als Bilanzsuizid bezeichnet werden. Aus ethischer Sicht müsse dieser Entscheid akzeptiert werden, habe doch in der Schweiz jeder Mensch das Recht, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden.

Selbstbestimmtes Sterben als neues Modell
Der Theologe bezeichnete es als grosses Missverständnis, dass es zwei Arten des Sterbens gebe: ein natürliches Sterben, von der Natur, dem Schicksal respektive Gott als dem Herrn über Leben und Tod so gewollt, der Mensch müsse sich fügen – und ein selbstbestimmtes Sterben. Dieses sei mit der Entwicklung der modernen Medizin, die über ein grosses Arsenal an lebensverlängernde Massnahmen verfüge, generell zu einem neuen Modell in der Schweiz geworden. In vielen Situationen, in denen Menschen früher gestoben wären, gebe es heute Möglichkeiten, das Leben zu verlängern. So fordere das Lebensende immer mehr Entscheidungen über das Weiterleben mit Fragen wie: Wie lange soll man mit hochwirksamen Mitteln den Tod bekämpfen? Wann soll auf lebensverlängernde Massnahmen verzichtet werden? Wann soll von kurativer auf palliative Behandlung umgestellt werden? So könne durch die heutigen medizinischen Möglichkeiten ein Dilemma entstehen, weil schwierige und ambivalente Fragen beantwortet werden müssen.

Vom Schicksal zum Machsal
War früher das Sterben der Inbegriff von fremd verfügtem Schicksal, werde es heute zunehmend zum selbstbestimmten Machsal. Untersuchungen gehen davon aus, dass in 58,7 bis 75 Prozent der Sterbefälle die Menschen heute erst nach Entscheidungen gestorben sind, dass medizinisch nichts mehr gemacht werden soll. Sterben sei also nicht mehr schicksalshaft, von Natur aus oder von Gott verfügt, sondern menschlich gesteuert von der sterbenden Person bzw. ihren Angehörigen. Dem könne man in der Schweiz mit einer Fülle an medizinischen Möglichkeiten nicht ausweichen. Nach einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall komme der Mensch unmittelbar in eine Mühle hinein, in der alles unternommen wird, um ihn zu retten. Dies sei auch die Aufgabe der Ärzte, obwohl auch wirtschaftliche Gründe dahinterliegen können, indem Betten besetzt und Maschinen ausgelastet werden müssen.

Freiheit und Zumutung
Die neue Situation führe zu einem Mehr an Freiheit, aber auch einem Mehr an ethischer Verantwortung und Fragen wie: «Will ich mit 95 noch Antibiotika im Wissen darum, das Gesundheitswesen und die Familie zu belasten – oder verzichte ich?» Die Frage, was ethisch und moralisch richtig ist, sei für viele Menschen eine Überforderung. Sie sind ambivalent, weil sie im Grunde genommen sterben, gleichzeitig aber doch die medizinischen Möglichkeiten nutzen möchten. So seien viele Menschen heute durch den Zwang zum selbstbestimmten Sterben überfordert, weil sie selber entscheiden müssen. Dies sei eine grossartige Freiheit auf der einen und eine enorme Zumutung auf der anderen Seite. Vor allem bei hochaltrigen Menschen stelle sich auch im Hinblick auf Multimorbidität und Demenz die Frage, wie verantwortlich und lebensdienlich wir damit umgehen. Es brauche Mut und Klugheit, sich rechtzeitig damit auseinanderzusetzen. Wann könnte es z. B. bei einer Lungenentzündung, bei Nierenversagen oder Kreislaufstillstand Zeit sein, zu gehen und gezielt auf lebensverlängernde Massnahmen zu verzichten?

Gott hat uns die Freiheit gegeben
Der Ethiker bezeichnete die verschiedenen Formen des selbstbestimmten Sterbens als legitim, seien sie doch verbunden mit einem persönlichen Entscheid. Doch lehne die römisch-katholische Kirche bis heute jede Art von Suizid ab, für sie ist Gott allein zuständig, während die evangelisch-reformierte Kirche diese akzeptiere. «Wir entscheiden mit Verhütung über den Anfang des Lebens, während wir das Lebensende mit Therapien, Impfungen und lebenserhaltenden Massnahmen mit allen Mitteln hinauszögern», bekundete Heinz Rüegger seine persönlichen theologischen Überlegungen. Er sei überzeugt, es sei nicht Gott, der über unsere Lebensdauer bestimmt. «Gott will unsere Freiheit, er will uns als mündiges Gegenüber, das selber bestimmen kann.» Religiös gebe es ein Recht auf Leben, aber keine Pflicht zum Leben. In der Bibel gebe es auch kein Suizidverbot. Niemand soll sich ethisch dafür rechtfertigen müssen, ob er/sie noch weiterleben will oder nicht. «Sterben ist zum Gegenstand eines eigenverantwortlichen Entscheids geworden. Uns wird damit eine Freiheit zugemutet, die wir wahrnehmen sollen.»

Abschiedlich leben
Damit uns diese Freiheit nicht überfordert, sei es wichtig, sich schon mitten im Leben mit der Endlichkeit auseinanderzusetzen. Gelegenheiten dazu seien eine Patientenverfügung, Abdankungen, Friedhofbesuche, die Musik oder die Begleitung Sterbender. Es gelte, die Kunst des guten Sterbens als ars moriendi wieder zu lernen und abschiedlich zu leben, wie es die Psychotherapeutin und Buchautorin Verena Kast formuliert hatte: «Je besser es uns gelingt, den Tod zu akzeptieren und in das eigene Lebenskonzept einzubauen, umso lebendiger vermögen wir das Leben zu leben.»

Lesenswert zum Thema ist der Artikel von Beat Bühlmann (November 2020) über das Sachbuch «Über selbstbestimmtes Sterben – zwischen Freiheit, Verantwortung und Überforderung» des Theologen Heinz Rüegger und des Palliativmediziners Roland Kunz sowie die Chronik über den Abschied von der Mutter von Melitta Breznik im Buch «Mutter».

Präsentation von Heinz Rüegger vom 1. September 2023

15. September 2023 – monika.fischer@luzern60plus.ch