Yvonne Volken. Bild: Joseph Schmidiger
Mit Joggeli à Paris
Von Yvonne Volken
Der Sommer 2023 ist wieder sehr heiss. Seufzend sperren wir schon am frühen Morgen das Tageslicht aus, verbarrikadieren uns tagsüber und lesen die Schlagzeilen, die auch zu diesem Sommer gehören, im Halbdunkel. Hitzerekorde, verschwindende Gletscher, Waldbrände, Wasserknappheit, Hurrikane im Sommer, verheerende Dürren und jahrelange Trockenheit im Süden.
«Der Klimawandel ist fast vollständig auf den Ausstoss von Treibhausgasen durch menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Bei einem weiteren Anstieg der Emissionen verstärken sich die Auswirkungen. In der Schweiz steigen die Risiken durch extremeres Wetter mit mehr Hitzetagen, heftigeren Niederschlägen, trockneren Sommern und schneearmen Wintern», warnt das Bundesamt für Meteorologie. «Ganz neue Vorgehensweisen sind erforderlich, um die Menschheit auf Ziele auszurichten, die anstelle weiteren Wachstums auf Gleichgewichtszustände führen. Sie erfordern ein aussergewöhnliches Mass an Verständnis, Vorstellungskraft und politischem und moralischem Mut», mahnt auch der Club of Rome schon lange. Wir wissen also längst, was wir sollen.
In Paris, in einem wunderbar klimatisierten Hotelzimmer, träume ich vom Joggeli – diesem Joggeli, der Birnen schütteln sollte, aber nicht will. Wie es weitergeht, wissen Sie bestimmt noch, nämlich dass da zunächst des Meisters Befehle und Drohungen nichts fruchteten, der Hund nicht zubeissen wollte, der Stecken nicht zuschlagen, das Feuer nicht brennen, das Wasser nicht löschen und das Kälbchen nicht trinken wollte und somit die Sache unerledigt blieb, bis… (Siehe weiter unten.)
Ausgerechnet in Paris begegnet mir nachts also der Joggeli, der 1908 von der Dichterin und Illustratorin Lisa Wenger erfunden wurde. Warum träume ich in Paris vom unwilligen Schweizer Bauerntrampel Joggeli statt von grünen Mietvelos? Denn die Velos haben hier Hochkonjunktur und erst noch viel Platz. Traumhaft. Viele Strassenzüge sehen nämlich so aus, wie wir uns einen mehrspurigen Boulevard in Peking in den 1980er-Jahren vorstellen.
Zum Beispiel die Rue Rivoli im Herzen von Paris. Im milden Abendlicht sind auf zwei Fahrspuren nur Velos, Leih- und Lastenräder unterwegs, schwirren durch die Stadt auf ihrem Weg von der Place de la Bastille zur Place de la Concorde. Hier, wo sich früher die Autos stauten und ständig Sirenen von Polizeiautos zu hören waren, ist es wunderbar-sonderbar still. Die Stadt hat zwei von drei Autospuren in Zweirichtungsvelostrassen umgewandelt. Dasselbe für uns fast irritierende Bild (ausgerechnet Paris!), bietet sich uns an vielen Orten der Innenstadt.
Das war keine Velodemo in diesen Julitagen. Das war städtische Verkehrspolitik. Seit drei Jahren setzt die rot-grüne Regierung unter Bürgermeisterin Anne Hidalgo in der französischen Metropole Schritt für Schritt ein Verkehrskonzept um, das sich positiv auf den Klimaschutz und vor allem auch auf die Lebensqualität der Stadtbewohner:innen auswirken soll. Perfekt ist die Situation natürlich nicht –
aber ermutigend und Green Work in Progress. Kommt hinzu, dass auch das französische Verkehrsministerium in den kommenden Jahren zwei Milliarden Euro ausgeben will, um den Veloverkehr im ganzen Land zu fördern.
Zurück zum Joggeli. Wir wissen, was wir sollen, aber scheinen «kä Luscht» zu haben, endlich diese Birnen zu schütteln. Was brächte uns hierzulande wohl dazu, in Sachen Umwelt- und Verkehrspolitik grosse und somit mutige Schritte zu unternehmen? Mit uns meine ich natürlich nicht nur Babettli und Joggeli auf der Strasse und auf dem Trottoir, sondern in erster Linie halt auch unsere «Meister:innen», Entscheidungsträger, Weichenstellerinnen. Denn was bringt den Joggeli schliesslich zur Einsicht? «Do goht de Meischter sälber us und foht a räsoniere: Jetzt wott s’Chälbli Wässerli sufe, jetz wott Wässerli Füürli lösche» etc. Und schliesslich: «Joggeli wott jetz Birli schüttle. D’Birli wei jetz falle!»
Was aber, wenn der Meister andere Pläne hat und es ihm ziemlich egal ist, ob diese Birnen – ist ja eh nur Fallobst – je geerntet werden? Wenn er also lieber zum Beispiel die Autobahn zwischen Zürich und Bern durchgängig auf sechs Spuren erweitern möchte. Dann könnten ja Babettli mit Joggeli am 30. September an die Nationale Klimademo gehen und mit Tausenden anderen «räsonieren» und das Joggeli-Muster umkehren und dem Meister zeigen, wo es langgehen muss.
31. Juli 2023 – yvonne.volken@luzern60plus.ch
Zur Person
Yvonne Volken, geboren 1956, war u.a. als Buchhändlerin, Journalistin, Kulturveranstalterin und Klassenassistentin tätig. Sie kam so mit ganz unterschiedlichen Lebenswelten in Kontakt. Seit ihrer Pensionierung sammelt sie Erfahrungen als betreuende Angehörige – und neuerdings als Grossmutter.