Meinrad Buholzer. Bild: Joseph Schmidiger

Wir (freiwilligen) Zombies

Von Meinrad Buholzer

Angefangen hatte es, nach meiner Erinnerung, mit dem Taschenrechner. Auf Kopfrechnen, so vernahm ich aus Schulkreisen, könne man nun verzichten. Möglicherweise schon früher hatte man das Auswendiglernen von Gedichten als obsolet abgeschrieben. Und dann die Handschrift: Die Zeit, die für stumpfsinniges, seitenlanges Üben von Buchstaben draufgehe, könne man besser nutzen. Die Argumentation beschränkte sich stets auf einen anbiedernden, oberflächlichen Utilitarismus. Dass mit diesen Übungen auch andere Fähigkeiten auf der Strecke blieben, übersah man geflissentlich. Ich will sie nicht aufführen. Wer sich dafür interessiert, findet haufenweise Hinweise in der einschlägigen Literatur (aber nicht in billigen, weichgespülten Ratgebern).

Dann kamen jede Menge Apparate, die uns alle möglichen Aufgaben, Pflichten, Verrichtungen abnehmen. Damit wir Zeit haben, uns durch Angebote zu klicken, die wir gar nicht brauchen. Aber, so höre ich, das Navigationssystem (GPS) sei doch gewiss eine sinnvolle Erfindung. Ja, auch ich nutze es. Aber eigentlich ist die Menschheit recht gut ohne ausgekommen. Klar, immer wieder hat man sich verirrt, ist am falschen Ende gelandet. Doch die Leute sind mit dem Auto nicht über Klippen gestürzt, in Flüsse gefahren und über Treppen geholpert – weil sie sich umgeschaut haben, bevor sie irgendwo eingebogen und nicht blind «Befehlen» des Navi gefolgt sind. In einem Gefährt notabene, dass sie mit immer stabileren Karosserien, mit Fahrassistenzsystemen und dicken Polstern von der Welt draussen abschirmt. (Autofahrer wissen offenbar nicht mehr, dass Fussgänger angespritzt werden, wenn sie durch Pfützen fahren. Scheint, dass es in Fahrschulen nicht mehr gelehrt wird, wie in meinen jungen Jahren noch.)

Aber man muss nicht Autofahrer sein, um sich abzusondern und die Umwelt zu vergessen. Ob zu Fuss oder im ÖV, die Leute verbringen ihre Zeit mit Dauerglotzen in ihre angeblich smarten Phones, während draussen die Landschaft vorbeizieht. Flanieren, spazieren – was ist das? Wo ich doch meine 10'000 Schritte pro Tag schaffen muss. Heisst: Wir verhalten uns wie Kranke, die ihre Medizin schlucken müssen.

Was ich sagen will: Wir verlieren den Kontakt zu unserer Umwelt. Die Technologie ist auf dem besten Weg, uns zu Zombies zu machen. Wir verabschieden uns von angeborenen und in Jahrhunderten ausgebildeten Fähigkeiten und werden zu willenlosen Objekten der Technologie. Und der geht es, banal gesagt, darum, uns mit kommerziellen Angeboten auszunehmen.

In einem «Schreiben der Gründer» bei Googles Börsengang 2004 wurde das Ziel angestrebt, «euch genau das zu geben, was ihr wollt, selbst wenn ihr nicht sicher seid, was ihr braucht». Den Satz muss man sich merken! Denn herkömmliche Werbung ist hoffnungslos veraltet, zu gross sind die Streuverluste. Selbst die Tage der personalisierten Werbung sind gezählt. Das Szenario für die Zukunft liegt in der Kanalisierung unserer Bedürfnisse: Dass wir uns aus eigenem Antrieb in die Richtung bewegen, in die wir uns bewegen sollen.

Erinnern Sie sich an die Pokémon-Hysterie von 2016, als sich auf der ganzen Welt Legionen mit ihren Handys auf den Weg machten, um künstliche Comicfiguren aufzuspüren? Die amerikanische Wirtschaftswissenschafterin Shoshana Zuboff sieht in dieser Mobilmachung ein Experiment, in dem die Machbarkeit des nächsten Stadiums des Überwachungskapitalismus untersucht wurde. In dieser Phase nämlich soll die Beherrschung der materiellen Welt durch die digitalen Geräte nicht mehr nur dazu genutzt werden, um Daten für Verhaltensvorhersagen zu sammeln, sondern solche Vorhersagen überflüssig zu machen. Zuboff: «Die Besitzer des Spiels lernten hier, kollektives Verhalten automatisch zu konditionieren, in der Herde zu gängeln und in Echtzeit auf Verhaltensterminkontraktmärkte zu treiben, und das immer gerade mal so, dass der Einzelne sich dessen nicht bewusst wird.»

Ach ja, die Gedichte. Okay, es ist vielleicht ein Unterschied, ob man ein Gedicht auswendig lernen muss oder ob man es par coeur oder by the heart lernt. Dennoch: Kinder vom Auswendiglernen abzuhalten lähme die Muskeln des Geistes, meinte der grosse Gelehrte George Steiner.

13. Dezember 2022 – meinrad.buholzer@luzern60plus.ch


Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten (LNN). 1975-2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten – der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.