Judith Stamm Foto: Joseph Schmidiger
In aller Leute Mund
Von Judith Stamm
«Schreib doch einmal über den «gesunden Menschenverstand» schlugen meine Freundinnen beim gemeinsamen Mittagessen vor. «Von dem reden doch alle, aber niemand weiss genau, was das ist» meinten sie. Eine schöne Herausforderung kam da auf mich zu!
Was verstand ich denn selbst unter dem gesunden Menschenverstand? Ein ausgewogenes Urteil über einen Sachverhalt? Eine ausgewogene Reaktion auf eine unerwartete Situation?
Aber was bedeutete denn «ausgewogen»? Also, mit Kanonen auf Spatzen zu schiessen, wäre sicher nicht ausgewogen!
Gab es nicht irgendwo im schweizerischen Zivilgesetzbuch einen Verweis auf den gesunden Menschenverstand? Ich fand die Bestimmung, an die ich mich vage erinnerte, bei den einleitenden Regeln, unter dem Titel: «Richterliches Ermessen». Im Wortlaut heisst es da: «Wo das Gesetz den Richter auf sein Ermessen oder auf die Würdigung der Umstände oder auf wichtige Gründe verweist, hat er seine Entscheidung nach Recht und Billigkeit zu treffen». Der Begriff «billig» kommt noch in weiteren Bestimmungen des Zivilgesetzbuches vor. Dabei ist nicht etwa «preiswert» gemeint. Ich denke, «Billigkeit» trifft ungefähr das, was wir heute unter «gesundem Menschenverstand» verstehen. Dabei weist das Zivilgesetzbuch klar darauf hin, dass der Billigkeit rechtliche Schranken gesetzt sein können. Das passt uns ja auch im täglichen Leben nicht immer, wenn wir durch gesetzliche Bestimmungen daran gehindert werden, so zu handeln, wie uns unser «gesunder Menschenverstand» eingeben würde. Eine meiner Bekannten ging früher bei Fussgängerstreifen immer bei Rot über die Strasse, wenn weit und breit kein heranfahrendes Auto zu sehen war. Sie berief sich auf ihren gesunden Menschenverstand! Dagegen war kein Kraut gewachsen.
Im eidgenössischen Parlament gab es vor einigen Jahren eine Interpellation 09.3911 mit dem Titel: «Gesunder Menschenverstand bei der Kinderbetreuung». Im Zusammenhang mit einem umstrittenen Entwurf für eine neue Kinderbetreuungsverordnung wurden dem Bundesrat verschiedene Fragen gestellt. Frage 2 lautete: «Ist er (der Bundesrat) nicht auch der Meinung, dass bei der neuen Verordnung der gesunde Menschenverstand abhanden gekommen ist?». Die Antwort des Bundesrates auf diese Frage lautete ganz trocken: «Nein»!
Persönlich war und ist mir das Argumentieren mit dem «gesunden Menschenverstand» oft etwas verdächtig. In Kurzform erscheint er im Wörtchen «man». «Das macht man doch so», heisst es etwa. «Das machten wir immer so» hat noch mehr Gewicht. Dahinter stehen die Gedanken des gesunden Menschenverstandes, dass etwas, das sich angeblich bewährt hat, doch nicht einfach auf den Kopf gestellt werden soll.
Ich stelle fest, dass ich dem «gesunden Menschenverstand» auf keine Weise beikommen kann. Darum gefällt mir eine Anekdote über den berühmten Physiker Albert Einstein (1879 – 1955) so gut. Nach einem Vortrag Einsteins über «Raum und Zeit» habe ein Zuhörer gesagt: «Nach meinem gesunden Menschenverstand kann es nur das geben, was man sehen und überprüfen kann». Einstein habe gelächelt und erwidert: «Dann kommen Sie doch mal nach vorne und legen Ihren gesunden Menschenverstand auf den Tisch!»
Bleibt uns die Hoffnung, dass wir alle über eine genügende Portion des gesunden Menschenverstandes verfügen, der uns das Überleben auch in schwierigen Zeiten sichert. - 16. November 2020
Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.