Persönliche Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit auf der digitalen HiStory-Plattform
HiStory-App macht Geschichte lebendig
Geschichten erzählen, Geschichten teilen als Mittel zur sozialen Integration im Alter: Das ist ein Ziel des internationalen Projekts HiStory. Vicino und das iHomeLab der Hochschule Luzern fördern die Idee einer Geschichts-App. Sechs Interessierte haben an den erstmals dazu durchgeführten Workshops teilgenommen.
Von Hans Beat Achermann (Text)
Hans war 50 Jahre lang Buchdrucker. Mit Jahrgang 1933 erlebte er als Kind noch den Krieg in Deutschland. Doch in seinen Erinnerungen ist vor allem sein Berufsleben präsent. Durch das HiStory-Projekt mit dem Thema «Zweiter Weltkrieg» konnte er sich plötzlich wieder in seine Kindheit versetzen. Drei MInuten lang – das ist eine Maximalvorgabe – hört er sich nun zusammen mit sechs weiteren Teilnehmenden selber zu. Mit dem Handy hat er die Erzählung aufgenommen und in eine App gestellt. Zwar knackt es ein bisschen im kleinen Lautsprecher, aber die Worte, die Geschichten machen Geschichte authentisch erfahrbar. «Solange wir die Einschläge hören, trifft es uns nicht», hatte die Mutter gesagt. Die Worte aber treffen beim Hören. «Ich hatte das alles nicht mehr präsent», sagt Hans nach dem Zuhören, «ich musste die Erinnerungen geradezu ausgraben.»
Die Vergangenheit in der digitalen Zukunft
Genau das ist das Ziel des HiStory-Projekts, das mit EU-Geldern in den Niederlanden, Österreich und der Schweiz gefördert wird. «Viele Menschen fühlen sich einsam und haben keine Möglichkeit, über ihr Leben zu sprechen. Das Geschichtenerzählen kann Menschen helfen, ihr Leben zu verstehen, sie mit ihrem sozialen Umfeld zu verbinden und zu einem erfolgreichen Altern beizutragen», heisst es in der Projektbeschreibung. Doch die Geschichten sollen nicht nur dem oder der Erzählenden nützen, sie sollen auch weitergegeben und zu Gesprächen und Diskussionen und zu weiteren Geschichten führen. «Jede Geschichte enthält wieder den Kern zu weiteren Erzählungen oder kitzelt eigene Erinnerungen hervor», sagt Moderatorin Doris Kaufmann, welche die drei vorangegangenen Workshops zusammen mit Michaela Christ von Vicino und Daniel Bolliger von der Hochschule Luzern begleitet hat. Aging well in the digital world – so steht es auf der Internetseite der das Projekt tragenden Organisation: Gut altern in einer digitalen Welt. Deshalb auch werden die Erzählungen nicht schriftlich festgehalten, sondern in einer Audio-Datenbank gespeichert und über eine App zugänglich gemacht – was auch zur Steigerung der digitalen Kompetenzen der Teilnehmenden führt.
Gehörtes, Gelesenes, Gesehenes
Jetzt, zum Abschluss des erstmals durchgeführten Workshops, hören alle einen Teil der Geschichten nochmals an, zum Teil hören sie sie zum ersten Mal, da auch zu Hause erzählt und aufgenommen wurde. Pia, pensionierte Oberstufenlehrerin, erzählt von einer Gedenktafel, die sie in Waldenburg an einem Tor gesehen hat und die an eine Erscheinung am 15. Juni 1940 um 21.30 Uhr erinnert: Damals sahen viele am Himmel ein Gebilde, das sie als schützende Hand wahrnahmen. Die Geschichte ruft bei anderen Teilnehmenden sofort wieder ähnliche Geschichten hervor, Walter, der Historiker, erinnert sich an eine Bruder-Klaus-Darstellung, die ebenfalls eine schützende Hand zeigt. Und so gehen die Geschichten ineinander über, werden – so hoffen die Initianten – vielleicht auch auf der App landen und so ein Mosaik von Erinnerungen bilden. Agnes’ Geschichte handelt von Herrn Figaro, einem jüdischen Kunsthändler, der verarmt in Luzern lebte und jeweils einmal pro Woche «am Sonntagstisch» bei ihrer Familie zu Gast war, Hosenknöpfe als Spielzeug für die Kinder mitbrachte. Das Wort «Sonntagstisch» führt zu weiteren Kindheitserinnerungen… und so geht es weiter. Walter erinnert sich an amerikanische Soldaten beim Löwendenkmal, die Chewing Gum verteilten. Maria weiss von antisemitischen Äusserungen ihrer Entlebucher Familie, die nicht bei Nordmann an der Weggisgasse einkaufen wollten, Doris erinnert sich an die Erzählungen ihrer Eltern über die Verdunkelung der Fenster und die Fliegeralarme während des Krieges.
Gegen das Vergessen erzählen
Anderthalb Stunden lang haben die Teilnehmenden den aus verschiedensten Optiken und Erfahrungen an den Zweiten Weltkrieg erinnernden Erzählungen zugehört, mit grossem Abstand und mit Masken. Die Nähe ist über das Erzählen und das Teilen der Geschichten entstanden. Geplant ist, das Projekt weiterzuentwickeln, mir neuen Themen, denn zweifellos gibt es unendlich viele Erinnerungen, die letztendlich nicht nur persönlich sind, sondern ein Zeitbild schaffen. Anderseits soll auch die Plattform noch technisch verbessert und weiterentwickelt werden. Angedacht ist aber auch, die Geschichten einer interessierten Öffentlichkeit weiterzugeben, zum Beispiel Geschichtslehrerinnen und -lehrern zur Verfügung zu stellen. Vielleicht ist Hören wirklich das neue Lesen, wie Doris Kaufmann zum Schluss zitierte. Geschichte festzuhalten, gerade als authentisch erzählte und von eigenen Erlebnissen geprägte scheint in einer Zeit, die stark vom Hier und Jetzt und von Sorge um die Zukunft geprägt ist, kann die Erinnerung über das Private hinaus ein «Lernfeld» sein. Damit Hans und wir alle nie mehr in den Luftschutzkeller müssen.
27. 10. 2010
Weitere Informationen:
https://hi-story.eu/
http://www.aal-europe.eu/projects/history/