Karl Bühlmann
Der Flaneur ist unterwegs (17)
Auf der "Wunde" Luzerns
Von Karl Bühlmann (Test) und Joseph Schmidiger (Bild)
Ich stehe an einer Stelle, die in keinem fremdsprachigen Lucerne-Guide als Sehenswürdigkeit und Foto-Spot aufgeführt ist. 33 Treppenstufen führen hinauf. Oder ein Lift, der für acht Personen und 630 Kilogramm ausgelegt ist. Der erhöhte Standort erlaubt einen 360 Grad-Rundblick. Nölliturm, Männliturm, Luegisland und Wachtturm von der Musegg blicken zurück. Weder eine Boutique noch eine Buvette hat es hier, keine Information in Deutsch, Englisch und Mandarin. Ein paar Schritte entfernt rauscht die Reuss vorbei, ein paar Meter unter mir fliesst der Verkehr, rollen oder stauen sich die Autos in beiden Richtungen. Der Flaneur steht auf der Fussgängerbrücke am Kasernenplatz, der einzigen Zugseil-Konstruktion in der Brückenstadt Luzern: Der Bogen aus Stahlrohren ruht beidseitig auf einem Betonblock, an den Seilen hängen die Querträger, auf denen der trittsichere Gehweg ruht.
Der Ort hat einen schlechten Ruf seit der Autobahn-Zubringer 1974 in Betrieb genommen wurde. Über sieben Spuren rollen unten täglich an die 50'000 Fahrzeuge in die Stadt und aus der Stadt. «Die hässlichste Wunde im Stadtbild» heisst es in einem (deutschsprachigen) Stadtführer von 2001. In schöner Regelmässigkeit wird in Politikzirkeln die «Wiedergutmachung dieser Bausünde» aufs Tapet gebracht und nach ein paar Wochen wieder in Schubladen versorgt. Das interessante und ausgezeichnete Projekt eines Reiterbauwerks auf diesem Platz wurde seinerzeit nicht realisiert, andere Vorschläge schon 1974 vom Volk abgelehnt. Später fiel die Idee eines Uni-Neubaus an diesem Platz ins Koma. Kürzlich ist in der lokalen Gazette, im Zusammenhang mit dem Abriss der alten Kaserne vor 49 Jahren, die «klaffende städtebauliche Wunde» wieder zitiert worden.
Der Platz ist kein Juwel, das «Eingangstor» in die Innenstadt hat zwar weltläufige Züge, kommt aber nie auf eine Liste denkmalgeschützter Güter. Der Flaneur kann gut damit leben, die halbwegs grossstädtische Ungestaltheit des Geländes zeugt von der Epoche der Wachstums- und Mobilitäts-Euphorie. Immerhin sind heute auch Velospuren und Fussgängerwege vorhanden, Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen, zwei Bäume aus der Familie der babylonischen Trauerweide sorgen für Schattenplätze an der Reuss. Ein Ort zum Innehalten – und zum Nachdenken über das zum Ort passende Zitat der verstorbenen Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross: «Die Zeit heilt nicht alle Wunden, sie lehrt uns nur, mit dem Unbegreiflichen zu leben.»
Es lohnt sich, auf der Passerelle einen Halt einzuschalten, in alle Richtungen zu blicken, historische Bilder und Vorkommnisse zu memorieren und sich über jüngere Unbegreiflichkeiten zu ärgern. Zur Innenstadt blickend, zum Beispiel über das «Fake»-Gebäude, in dem sich das Naturmuseum befindet. Der Biedermeierpalais ist eine Rekonstruktion des einstigen Waisenhauses, erbaut von Josef Singer anno 1808/11. Dieses stand 200 Meter südöstlicher und musste in den 1970er Jahren dem Autobahn-Anschlusswerk weichen. Weil es unter Denkmalschutz stand, wurde es abgebrochen und am heutigen Standort als Rekonstruktion äusserlich originalgetreu wiederaufgebaut. Für die Kosten der architektonischen Täuschung kam das Nationalstrassenbudget auf. Derart verarztete Wunden, Rekonstruktionen, sind heute keine denkmalpflegerische Massnahme mehr und werden abgelehnt. Im Notfall eine Verschiebung, das wäre erlaubt – und dieses Thema ist aktuell beim Gewerbegebäude von 1933 an der Tribschenstrasse.
Auf dem Platz des Naturmuseums stand vorher die 1863 erbaute Infanteriekaserne , die in den Dreissigerjahren ausgemustert wurde und anschliessend teilweise für Schul- und Vereinsbetrieb genutzt wurde. Ich hatte in der Kantizeit dorthin zum Musikunterricht, genannt Singen, anzutreten. In der Reuss stand noch die «Bade- und Waschanstalt Spreuerbrücke». im Volksmund «Missisippi-Dampfer» genannt. Der schiffähnliche Bau auf Stelzen, flussabwärts und von der Spreuerbrücke her erreichbar, war Grosswäscherei und Volksbad, bot Dampf-, Schwitz- und Kräuterbäder an. Für viele Einwohner war es der Ort für die persönliche Wochenwäsche. Wer hatte damals schon eine Badewanne zuhause? Von den 4'700 Wohnungen um 1900 in der Stadt besassen nur 280 diesen Luxus. Im Hof-Quartier waren 67 Wohnungen damit ausgerüstet, das sind 33 Prozent, im Untergrund-Quartier hatten einzig sieben Wohnungen eine Badewanne, das sind 1.3 Prozent aller Wohnungen. Badewannen als Indikator des Wohlstandsgefälles! Mit der Steigerung des Wohnkomforts nahmen die Besucherzahlen der Waschanstalt rapide ab. Die Eröffnung des Hallenbades Biregg 1969 führte zum definitiven Ende. Die Stadt begann – ausgerechnet! mit Absicht? – am Güdismontag 1971 mit der Schleifung des Baues. Keine Partei oder sonstige Gruppierung wehrte sich lautstark gegen den Abriss, es gab keine Vision, wie der ungewöhnliche Bau hätte umgenutzt werden können, niemand besetzte den leeren «Missisippi-Dampfer». So müssen wir uns auch mit dieser Wunde im Stadtbild abfinden.
(Übrigens: Nach der ersten Teileinstellung der Wäscherei kreierten im frei gewordenen Raum die Tüftler Rico Baltensweiler und Rosmarie Schwarz den Lampentyp 600 und starteten ihre Karriere als Lichtdesigner. Bohemien Pöldi Häfliger, Maler und Maskenkünstler, wohnte eine Zeitlang in der Wohnung über dem zentralen Heizkessel.)
Zurück auf die Passerelle, mit Blick jetzt in Richtung Bruchstrasse und ins Gebiet um das ehemalige Sentispital. An der Baselstrasse entlang reihen sich Häuser mit Geschichte: das von «Moos’sche Anderallmend»-Riegelhaus von 1679, die wieder neu aufgemöbelte hundertjährige «Speisewirtschaft Metzgerhalle», die «Antik-Börse» und «The Brunch Brothers». Verdeckt vom Parkhaus heisst es noch immer «Buchdruckerei Keller» an der Fassade der Baselstrasse 15. Keller & Co AG war Herausgeberin des 1852 erstmals erschienen und inzwischen verblichenen liberalen «Luzerner Tagblatts». Oben im Haus war die Redaktion eingepfercht, im Erdgeschoss lockte das Kino «Madeleine», «Revolverküche» genannt, mit Western- und Erotikfilmen, letztere mit Darstellerinnen, die nur wenig blutter waren als die Unterwäsche-Modelle im Achermann-Versandkatalog aus Entlebuch.
Das Terrain extra muros und gegen die Reuss hin ist seit mittelalterlicher Zeit ein Wundplatz, mit Blut und Tränen getränkt. In der Nähe des heutigen Altstadt-Parkhauses lag der Schweinemarkt, unter der Passerelle bis ins zwanzigste Jahrhundert der städtische Schlachthof, die Reuss war nicht gefeit vor Gedärm und Galligem. Ein Spittel für Fremde und ein Siechenhaus für Aussätzige standen in der Nähe, für die langsam dahinsiechenden Leprakranken und für die von der Pest geschlagenen Ausgestossenen, die manchmal das Glück hatten, zu überleben. Neben dem Waisenhaus gab’s die «Wyberanstalt» (Entschuldigung, so war der Name), das Gefängnis und die Hinrichtungsstätte, zwei Friedhöfe, darunter einer für Selbstmörder und Hingerichtete.
Der Richtplatz, der «Kallenberg», befand sich auf dem Gelände rechts der Gütschbahn-Talstation, begrenzt vom Eisenbahndamm, Reuss und Geissmattstrasse. Seit Anfang der 1950er Jahre steht dort der Sentihof, eine Wohnanlage, heute als schützenwert eingestuft, weil sie in der Nachkriegszeit neue Massstäbe gesetzt hat. Die 293 Wohnungen boten Platz für über 600 Menschen, was für die Innenstadt damals eine immense Erweiterung bedeutete. Architekt war der Luzerner Heinrich auf der Maur, die Ernst Göhner Generalunternehmung realisierte die siebengeschossige Blockrandbebauung mit Innenhof. Letzterer entspricht in etwa dem Standort des früheren Gefängnishofes, der «Männerzuchtanstalt».
Auf der Sentimatte wurden die «schändlichen» Todesstrafen vollzogen. Bis 1848 waren die Hinrichtungen im Untergrund-Quartier öffentlich. Eines der letzten öffentlichen Spektakel fand am 31. Januar 1846 statt. Jakob Müller vom Stechenrain bei Hellbühl, Bauer und radikaler Freischärler, verurteilt als Mörder des konservativen Grossrats und Anführer des katholischen Landvolks, Josef Leu von Unter-Ebersol (Gemeinde Hohenrain), bestieg das Schafott, begleitet von zwei Stadtpfarrern. «Müller hat die Tat bereut und erwartet ausgesöhnt mit Gott die Strafe der irdischen Gerechtigkeit» heisst es im Protokoll: «Um 5 Minuten vor 11 Uhr fiel sein Haupt unter dem Schwert des Scharfrichters.»
Wenn der Flaneur dem Büchlein «Ratsherr Josef Leu von Ebersol – Werke und Leben in drei Bildern» (1926, fünfte Auflage!) seines Namensvetters Thomas Bühlmann, konservativer Grossrat und Rechtsanwalt aus Ballwil, trauen darf, sollen 14'000 Zuschauer der Hinrichtung beigewohnt haben. Gaffer gab es schon immer! Die Stadt zählte damals 10'000 Einwohner, und die meisten waren auf liberaler Seite. Es müssen Tausende vom katholischen Seetal und Hinterland zu Fuss und mit Ross und Wagen in die Stadt geströmt sein – bis dorthin, wo heute wegen des motorisierten Verkehrs die «Wunde» ist.
Zur Person:
Karl Bühlmann (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der ‚Luzerner Neuesten Nachrichten', 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.
19.August 2020 – karl.buehlmann@luzern60plus.ch