Renate Metzger-Breitenfellner: «Menschen, denen es gut geht, sind verpflichtet, jene zu unterstützen, die weniger Glück haben.»

«Wir verlieren die Hoffnung nicht»

Renate Metzger-Breitenfellner war 2015 Mitgründerin des Begegnungsortes HelloWelcome in Luzern. Die Geschäftsleiterin des Treffs für Geflüchtete freut sich: «Der hat sich in der Zwischenzeit zum Unternehmen gemausert. Die Arbeit ist anspruchsvoll und belastend, aber auch sehr bereichernd.» 

Von Monika Fischer (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Wenn ich Renate Metzger-Breitenfellner begegne, ist sie meistens in Eile. Und doch nimmt sie sich stets kurz Zeit für einen herzlichen Austausch. Auf eine E-Mail folgt die Antwort umgehend. Auch bei den Anlässen von HelloWelcome ist sie ständig in Bewegung. Sie initiiert, organisiert, vermittelt, schreibt, spricht da, hilft dort. Seit vielen Jahren kenne ich sie als engagierte und verlässliche Kollegin. Bisher wusste ich jedoch wenig über ihr Leben.  

In der Schweiz nicht willkommen
Im Juni 1956 geboren und mit einer Zwillingsschwester in Oberösterreich aufgewachsen, erzählt sie von ihrem etwas «speziellen» Elternhaus. Die Mutter sei eine überzeugte Nationalsozialistin gewesen, die Hitler-Jugend deren grosse Liebe. Auch der Vater, Standesbeamter und Bauchef, sei kurz vor Kriegsende der SS beigetreten. Gespräche über den Nationalsozialismus waren allerdings ein Tabu in der Familie. Erst vor wenigen Jahren entdeckte sie, dass der Grossvater als einziger der Familie nicht mit den Nazis kollaboriert hatte.

Durch Vermittlung eines Onkels konnte sie in den Ferien in Engelberg in einem Hotel ihr Taschengeld verdienen. Nach der Matura arbeitete sie dort mehrere Sommer- und Wintersaisons. Sie musste sich wie damals für Saisonniers üblich beim Grenzübertritt medizinisch untersuchen lassen und bekam die Aufenthaltsbewilligung nur bei vollständiger Gesundheit. «Ich fühlte mich nicht sehr willkommen», sagt sie. «Nicht in der Schweiz, und schon gar nicht in Engelberg. Es dauerte mehrere Saisons, bis ich mich zu den Einheimischen an den Tisch setzen durfte.»

In der Realität angekommen
In Engelberg lernte Renate ihren Mann Ueli kennen, «einen Menschen, den alle mögen». Er war acht Jahre älter und wollte schnell heiraten. Sie brach ihr Studium ab und zog nach Beckenried, wo Ueli als Lehrer arbeitete. «Vielleicht wollte ich einfach weg von meinem Umfeld», sagt sie nachdenklich. Vergebens suchte sie nach einer Möglichkeit, ihr Studium in kombinierter Religionspädagogik weiterzuführen.

«Ich war 21, fühlte mich mausbeinallein, total unglücklich – und wurde gottseidank schwanger.» Eineinhalb Jahre nach der Tochter gebar sie einen Sohn und wurde begeisterte Vollzeitmutter und Hausfrau. «Ich habe viel gestrickt, mit Kindern gebastelt, war Fasnächtlerin, habe mich in Sportvereinen engagiert, im Kulturverein mitgemacht, eine Spielgruppe gegründet, die Ausbildung zur Spielgruppenleiterin absolviert, eine Gruppe junger Eltern aufgebaut. Alles hat gestimmt. Ich habe viel Neues gelernt, war glücklich und zufrieden und denke gerne an diese Lebensphase zurück.»

Als bei einem Wohnungswechsel die Auswahl angesichts des knappen Budgets gering war, fiel erstmals der Satz ihres Mannes: «Du könntest etwas arbeiten, bei dem du auch etwas verdienst.» Im Gedanken an die Zeitungsberichte, die sie für Vereine geschrieben hatte, schaute sie nach Stellen im Journalismus und wurde Korrespondentin für verschiedene Zeitungen. 

Journalismus und Romero-Haus
Als in Verbindung mit dem Regionalfernsehen eine Redaktionsstelle frei wurde, bewarb sie sich mit klarer Lohnforderung erfolgreich dafür. Bei einer der «Luzerner Zeitungsfusionen» wehrte sie sich dagegen, den Männern im Team den Vortritt lassen zu müssen. Nach einem Streit mit dem Chefredaktor kündigte sie von einem Tag auf den andern. Sie erfuhr nun persönlich, worüber sie früher berichtet hatte: Was es heisst, arbeitslos zu sein und sich beim RAV bewerben zu müssen. Sie meldete sich wieder ab und arbeitete als freie Journalistin.

Schliesslich wurde sie gefragt, in der Veranstaltungsgruppe des Romero-Hauses mitzuarbeiten. Die Aufgabe interessierte sie, obwohl sie ausser journalistischer Erfahrung und einem abgebrochenen Theologiestudium wenig von dem mitbrachte, was verlangt wurde. Trotzdem bekam sie die Stelle: «Die 14 Jahre im Romero-Haus waren wunderbar, eine fortwährende Weiterbildung mit vielen spannenden Begegnungen. Ich lernte interessante Menschen kennen, fand die Arbeit unglaublich bereichernd. Und neben meinem 30-Prozent-Pensum hatte ich Zeit für eigene Projekte.»

Gegen das Vergessen
2003, in Afrika grassierte Aids, unternahm sie eine dreiwöchige Bildungsreise nach Sambia und Malawi. «Das unmittelbare Nebeneinander von absolutem Elend, irrsinniger Lebensfreude und enormer Gastfreundschaft hat mich zutiefst erschüttert. Hier erfuhr ich, was das Leben im Hier und Jetzt bedeutet. Die Heimkehr in unseren Wohlstand, wo sich die Menschen nur schon wegen einer Minute Verspätung aufregen, war für mich ein Schock.»

Zutiefst deprimiert wollte sie auswandern, sie wollte nur noch weg. Im selben Jahr erkannte sie auf der Projektreise nach Kroatien und Bosnien acht Jahre nach Kriegsende: «Es gibt auch hier genug zu tun.» Wochenlang weilte sie danach in Bosnien, wo sie unter anderem in Srebrenica verschiedene Projekte aufbaute und Sensibilisierungsarbeit machte. «Die Welt darf Srebrenica nicht vergessen», war ihr grosses Anliegen. Aus diesem Antrieb entstanden viele Artikel, zwei Bücher und ein Film mit Conny Kipfer über das Leben in Srebrenica, darunter «Das Leben kann nicht warten» mit Porträts von acht jungen Frauen, die von ihrem Alltag erzählen.

Handeln, wo es nötig ist
«Obwohl wir in Bosnien viel Schreckliches erfahren hatten, war es eine gute Zeit, die ich nicht missen möchte», sagt Metzger-Breitenfellner. Doch dann kam der Krieg in Syrien und damit die so genannte «Flüchtlingswelle». Die Situation war ähnlich wie heute: viele Geflüchtete, überforderte Behörden. Sie sah: «Diese Menschen brauchen einen Ort, wo sie willkommen sind, wo sie sich aufhalten, Deutsch lernen und andere Menschen treffen können.»

Gemeinsam mit Luisa Grünenfelder und Marga Varela gründete sie 2015 den Verein HelloWelcome und erarbeitete ein Konzept. Mit Unterstützung der Katholischen Kirche Stadt Luzern konnte im Januar 2016 der gleichnamige Treffpunkt im Pavillon am Kauffmannweg in Luzern eröffnet werden. 

«Die Atmosphäre ist wunderbar»
«Es kamen auf Anhieb enorm viele Menschen, wir waren überwältigt», schildert Metzger-Breitenfellner. HelloWelcome entwickelte sich rasch zum lebendigen Treffpunkt für Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten sowie Einheimischen und ist aktuell ein kleines Unternehmen mit fünf Team-Mitgliedern, einer ehrenamtlichen Geschäftsleitung (sie selber) und ungefähr 80 Freiwilligen. Sie tauschen sich mit den Besucherinnen und Besucher aus verschiedensten Kulturen aus. Sie helfen beim Erlernen der Sprache, beim Ausfüllen von Formularen, beim Aufsetzen von Bewerbungen und leisten Hilfe am Computer und vieles andere mehr.

HelloWelcome organisiert Länderabende und Projekte mit anderen Institutionen. Im August 2021 wurde nach der Machtübernahme durch die Taliban eine Beratung für Afghanen und Afghaninnen eingerichtet. «Eine aufwändige Sache, die immer noch andauert, Zeit, Energie und Geld kostet.» 

Metzger-Breitenfellner ist seit Beginn bei HelloWelcome für Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising zuständig. Sie schildert, wie der Verein wegen der Corona-Pandemie einen grösseren Raum suchen musste und 2021 zum grossen Glück im Bundeshaus an der Bundesstrasse 13 ein neues Lokal fand. Dieses wurde gemeinsam mit den Besuchern und Besucherinnen umgebaut. «Die Atmosphäre ist wunderbar. Alle fühlen sich wohl.» 

Eine innere Verpflichtung
Metzger-Breitenfellner lässt sich bei ihrem Engagement von der Überzeugung tragen: «Menschen, denen es gut geht, sind verpflichtet, jene zu unterstützen, die weniger Glück haben.» Doch wie erträgt sie es, immer wieder Krieg und Elend zu begegnen? «Es gibt auch viel Schönes, Lustiges, Ermutigendes», sagt sie, «obwohl die Situationen oft zum Verzweifeln sind, verlieren wir die Hoffnung nicht. Wir haben ein gutes Team. Wir weinen und lachen gemeinsam. Es gibt immer beides.»

Ganz wichtig ist für sie die Unterstützung der Familie und das regelmässige Zusammensein mit den Enkelkindern. «Ich klinke mich dann aus, bin einfach weg. So tanke ich auf – und sammle neue Energie für die Arbeit bei HelloWelcome.»

10. Mai 2023 – monika.fischer@luzern60plus.ch