Im Deutschkonversationskurs im Gemeinschaftsraum entwickeln sich neben Sprachkompetenzen auch Beziehungen zwischen den Generationen.

Beim Generationenwohnen geht es um Anteilnahme

Fragt man ältere Menschen, welches Wohnumfeld sie sich wünschen, dann soll es bei den meisten ein generationengemischtes sein. Doch woher kommt dieses Bedürfnis nach Generationenbeziehungen in der Nachbarschaft und wie können solche gefördert werden? Diese Fragen geht die Age-Stiftung in ihrem neuen Themenheft „Generationen-Wohnen heisst Nachbarschaft“ nach. 

Von Andreas Sidler

Was braucht es für ein gutes, generationengemischtes Wohnumfeld? Wer dieser Frage auf den Grund gehen will, muss zuerst die Erwartungen ausblenden, die den Blick auf das Wesentliche verstellen. Es geht beim Zusammenleben unterschiedlicher Generationen nicht darum, in der Nachbarschaft eine Quelle für günstige Betreuungsleistungen zu erschliessen – sei es für sehr alte oder sehr junge Menschen. «Generationenwohnen soll die Beziehung und nicht den Nutzen in den Vordergrund stellen», rät Dr. Alexander Seifert, der im Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich die Bedeutung von Nachbarschaft in den späteren Lebensjahren erforscht.

In der Anteilnahme liegt der Kern

Es geht aber auch nicht darum, die Nachbarschaft zur Ersatzfamilie oder zur Wahlverwandtschaft zu transformieren, auch wenn die Zahl der alleinstehenden älteren Menschen in der Schweiz zunimmt, suchen die wenigsten einen Familienersatz, nicht einmal in ausgeprägt gemeinschaftlich orientierten Wohnmodellen. «Die meisten wollen miterleben und nicht mitmachen», hat Nina Schneider, Mitentwicklerin und Bewohnerin der Siedlung Kalkbreite beobachtet. «Es geht ihnen nicht um Teilnahme, sondern um Anteilnahme am Alltag von Nachbarn, die in anderen, vor allem früheren Lebensphasen stecken.»

Der Wunsch nach Generationenkontakten

Doch woher kommt dieser Wunsch älterer Menschen nach Anteilnahme am Leben ihrer jüngeren Nachbarn? Möchte man dadurch dem Alter entfliehen? Für Prof. Pasqualina Perrig-Chiello, die Präsidentin der Seniorenuniversität Bern und Expertin für Generationenfragen, ist dies nur einer von vielen Gründen. Auch die Angst, im Alter ausgegrenzt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden, führe dazu, dass viele Menschen im Rentenalter ein generationengemischtes Wohnumfeld einer Alterssiedlung vorziehen. Zudem bedeutet der Kontakt zu jüngeren Menschen auch, Informationen über die Veränderungen in der Welt zu erhalten und Neues zu lernen. Im Gegenzug ist es auch die Gelegenheit, sich und seine Erfahrung einzubringen.

«Die Babyboomer werden oft als hedonistische Globetrotter beschrieben, dabei handelt es sich um eine Generation, die Generativität – also die gegenseitige Sorge zwischen den Generationen – für sehr wichtig hält.», gibt Perrig-Chiello zu bedenken. Aber wird dieses Bedürfnis nach guten Generationenbeziehungen im Wohnumfeld von den Jungen Nachbarn geteilt? «Es gibt ein gewisses Ungleichgewicht, und das Bedürfnis nach Kontakten zu anderen Generationen ist bei den älteren Menschen ausgeprägter. Im Gegenzug sind die Jungen aber auch sehr offen und haben Freude am Experimentieren und Ausloten von Möglichkeiten. Das kann man auch für Generationenkontakte nutzen.»

Ein positives Altersbild

Nina Schneider aus der Zürcher Siedlung Kalkbreite stimmt der Berner Professorin zu: «Die jungen Erwachsenen hier in der Siedlung und wohl auch anderswo haben ein unbelastetes, ja sogar positives Verhältnis gegenüber älteren Mitmenschen. Die Generation, die in den 60er- oder wie ich in den 80er-Jahren aufgewachsen ist, hat sich viel eher gegen die älteren Generationen aufgelehnt. Menschen, die heute in der Familienphase sind, mussten sich viel weniger emanzipieren. Sie sind in einer pluralistischen Gesellschaft gross geworden und empfinden ältere Menschen und ihre Lebensvorstellungen nicht als Provokation.»

Aktiv Verbindungen suchen

Auf der Seite der älteren Menschen besteht also Interesse und auf der Seite der Jungen zumindest Offenheit. Dennoch scheinen Generationenkontakte in Nachbarschaft nicht selbstverständlich zu entstehen, besonders wenn man nicht unmittelbar nebeneinander wohnt. Hierbei zeigt sich der Wert einer aktiven Nachbarschaftsentwicklung, welche nach Verbindungen zwischen den verschiedenen Alltagswelten der Nachbarn sucht und diese zur Vernetzung nutzt. Diese Aufgabe können Bewohnergruppen oder engagierte Trägerschafften übernehmen. Da aber die Etablierung von tragfähigen Nachbarschaftsnetzwerken insbesondere zwischen Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen sehr anspruchsvoll ist, greifen Trägerschaften von generationengemischten Siedlungen vermehrt auf die Unterstützung von Fachleuten, beispielsweise aus dem Bereich der soziokulturellen Animation, zurück. Sie begleiten altersgemischte Nachbarschaftsprojekte, welche die Siedlung gestalten und Aktivitäten organisieren. Gerade für ältere Menschen, die in eine neue Umgebung ziehen, hat dies den Vorteil, dass sie sich so in kurzer Zeit ein soziales Umfeld erschliessen können, das ihnen dieselbe Sicherheit im Wohnalltag vermittelt wie die über viele Jahre gewachsene Nachbarschaft am alten Wohnort.

Andreas Sidler arbeitet seit 2008 bei der Age-Stiftung, welche Projekte im Bereich Wohnen und Älterwerden finanziell unterstützt und dokumentiert. Dort leitet er den Bereich Forschung & Wissensvermittlung.

Das Age-Dossier „Generationen-Wohnen heisst Nachbarschaft“ kann ab Ende Oktober unter www.age-stiftung kostenlos bestellt oder heruntergeladen werden.

In einem kurzen Webinar (Zoom) gibt der Autor Andreas Sidler einen Einblick in Fragestellungen, Recherchen und Resultate. Beim «Age-Talk» erfahren Sie unter anderem, was Generationenwohnen für ältere Menschen attraktiv macht. Melden Sie sich für den «Age-Talk» am 29. Oktober 2020 von 11.00 bis 11.30 Uhr an:

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