«Die Kirche muss für die Menschen da sein»: Seelsorger Franz Zemp im «MaiHof».
Kein Mann der frommen Sprüche
Er hat im «MaiHof» die Kirchentüren weit geöffnet. Er kennt als Seelsorger der kirchlichen Gassenarbeit die Nöte der Drogenabhängigen. Nun wechselt Franz Zemp in ein Pfarrhaus am Sempachersee. Eine Flucht aufs Land?Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)
Ein wenig Wehmut ist schon dabei. In diesen Tagen räumt Franz Zemp (56) seine Privatwohnung. An Ostern nimmt er Abschied von seiner Pfarrei. Am 1. Mai beginnt er die Arbeit als Seelsorger in seiner neuen Pfarrei. «Der MaiHof» ohne Franz Zemp? Diese Vorstellung ist nicht recht zu fassen, auch für ihn selber ist dieser Gedanke immer noch gewöhnungsbedürftig. Während annähernd 18 Jahren war er in dieser Pfarrei tätig, seit 2004 hat er als Pfarreileiter den stadtbekannten «Maihof-Geist» massgeblich geprägt.
Die Kirche aus dem Korsett befreien
An diesem Vormittag ist der Kirchensaal leer. «Der MaiHof», wie das Pfarreizentrum seit dem Umbau von 2013 heisst, entspricht nicht dem gängigen Bild einer Kirche. Keine festgeschraubten Sitzreihen, keine Kniebänke, kein barocker Ballast, der den Menschen demütig macht. Für den Fotografen rückt Franz Zemp sein Jacket zurecht, die rechte Hand steckt in der Hosentasche seiner Jeans. Zemp ist kein Pfarrherr mit steifem Kragen und schwarzer Schale. Und auch kein Mann der frommen Sprüche. Er ist bodenständig, unkompliziert, menschennah. Vorne an der Kirchenwand hängt ein hölzernes, gleichschenkliges Kreuz und ganz bewusst kein Kruzifix mit dem sterbenden Jesus. «Ich finde es schrecklich, sich einen Toten an die Wand zu hängen, das ist doch eine Verherrlichung des Leides.» Er hat es eher mit den Engeln.
Mit dem Projekt «Der MaiHof» hat die Pfarrei St. Josef ein architektonisches Zeichen für eine offene Quartierkirche gesetzt. In der Nachfolge von Adolf Stadelmann (Pfarrer von 1963-1986), der mit neuen Liturgieformen und einer offenen Theologie für frischen Wind gesorgt hatte, öffneten Franz Zemp und das Pfarreiteam die Kirchentüre auch für nichtreligiöse Menschen und für weltliche Projekte. Trauerfeiern, Kunstinstallationen, Konzerte, Yogastunden und multikulturelle Abendtische. Selbst TV-Übertragungen von Fussballspielen auf der Grossleinwand sind hier möglich. «Die Kirche muss für alle da sein», sagt Franz Zemp, «wir müssen sie von ihrem dogmatischen Korsett befreien.» Das schafft zwangsläufig ein Spannungsfeld zwischen der strengen katholischen Lehre und den realen Alltagsnöten der Menschen. Zemp hat gelernt, damit umzugehen. Auch wenn er sich zuweilen frage, ob er in diese Kirche passe.
Kein abgesegneter Priester
Aufgewachsen ist Franz Zemp in einfachen bäuerlichen Verhältnissen in Escholzmatt. «Mein Vater brachte mit vierzehn Kühen sechs Kinder durch. Als Bub wusste ich nicht, was eine Pizza ist, und schwimmen lernte ich erst im Alter von sechzehn Jahren an der Kantonsschule.» (NZZ Folio, März 2016) Der Alltag war streng katholisch, geprägt von der frommen Mutter: morgens, mittags und abends vor dem Essen beten, oft auch mit dem Rosenkranz in der Hand. Über dem Esstisch in der Bauernstube hing das Kruzifix. Als Bub faszinierten ihn Missionare, als Jugendlicher sah er sich selber als eine Art Franziskus. Das hat sich später gelegt. «Ich bin nicht missionarisch unterwegs», sagt Zemp. «Wir müssen den Leuten nicht sagen, was sie zu glauben haben.» Er studierte Theologie, doch verzichtete er – zum Leidwesen seiner Mutter – auf die Priesterweihe. Es widerstrebte ihm, sich der katholischen Hierarchie zu unterwerfen, und er wollte auch nicht im Zöllibat leben. So sei er nun kein «abgesegneter Pfarrer».
Der Kirche ist er treu geblieben. Von 1993 bis ins Jahr 2000 war er als Pastoralassistent in der Pfarrei Würzenbach tätig. Dann arbeitete er für drei Jahre auf der Fachstelle für Jugendarbeit bei der Luzerner Landeskirche, bevor er als 38-Jähriger in die Pfarrei St. Josef im Maihof wechselte. Er will mit Menschen zu tun haben, versteht sich als Seelsorger in einem offenen Katholizismus. In seiner Studienzeit lebte er für ein halbes Jahr in Südamerika, «da konnte ich aus der Enge meiner Herkunft ausbrechen». Die Befreiungstheologie, das Leben in den Basisgemeinden hat ihn nachhaltig beeinflusst. Und auch sein Gottesbild hat nicht mehr so klare Konturen. Vor sechs Jahren hat Franz Zemp sein Pensum als Pfarreileiter um einen Drittel reduziert. Seither arbeitet er zu 35 Prozent auch als Seelsorger in der kirchlichen Gassenarbeit mit Drogenabhängigen.
Ein Rosenkranz für Drogensüchtige
Warum hat er diese Aufgabe auf sich genommen? «Ich interessiere mich für Menschen, die nicht konform leben», sagt Zemp, „Menschen, die erfahren haben, was Lebensbrüche bedeuten.» Er ist jede Woche für ein paar Stunden in der Gassenküche präsent. Er besucht Drogenabhängige im Spital oder in der Justizvollzugsanstalt Grosshof in Kriens. Und er gestaltet die Abdankung, wenn einer von ihnen gestorben ist – im Jahr können das 15 bis 20 Abdankungen sein. «In der Gassenküche hören wir jeweils die Lieblingsmusik des Verstorbenen und jeder zündet eine Kerze an.» Solche Rituale seien wichtig, um der Angst vor dem eigenen Tod zu begegnen. Manchmal werde er gebeten, ihnen einen Rosenkranz zu beschaffen.
«In der Gassenarbeit bin ich mit existenziellen Fragen konfrontiert», sagt Franz Zemp, er finde auch Anknüpfungspunkte für sein eigenes, privilegiertes Leben. Aber er habe nicht auf alle Fragen eine Antwort. Wenn einer wissen will, wo denn Gott nun sei, könne er auch nur schweigen. Während der Corona-Pandemie hatten sie zum Glück nicht mehr Todesfälle zu beklagen. Doch das Elend der Obdachlosigkeit sei für Drogenabhängige, die oft kein richtiges Zuhause hätten, besonders schwierig. Auch das Betteln auf der Strasse sei erschwert. Wie kann er mit dieser Not umgehen? «Ich habe gelernt, die eigene Hilflosigkeit auszuhalten», sagt Franz Zemp. Wenn er abends in seine Wohnung in einem Bauernhaus zurückkehrt, sucht er sich Bücher und Filme aus, die ein Happyend versprechen. Ende März wird er seine Arbeit bei der kirchlichen Gassenarbeit beenden. Dieser Abschied fällt ihm besonders schwer. Überhaupt der Abschied von seiner Pfarrei. Eine gewisse Traurigkeit könne er nicht verleugnen. «Hier war mir alles vertraut, ich verlasse ein warmes Nest.»
Ein Pfarrhaus mit Seesicht
Auf den 1. Mai 2021 übernimmt Franz Zemp als Pfarreileiter die Seelsorge für Sempach und Eich, gleichzeitig ist er für den Pastoralraum Oberer Sempachersee zuständig. Er wird künftig im stattlichen Pfarrhaus in Eich wohnen, mit Seesicht und schönem Garten – auf den er sich besonders freut. Ist der berufliche Wechsel eine Flucht aufs Land? Nein, das sei es keineswegs. Aber nach 28-jähriger Tätigkeit in der Stadt Luzern wolle er, im Alter von 56 Jahren, nochmals für Bewegung auf dem eigenen Lebensweg sorgen. Es habe eigentlich keinen rationalen Grund gegeben, er sei eher einem persönlichen Impuls gefolgt: «Es hat mich weggezogen», sagt Franz Zemp. An andere Ufer, zu anderen Menschen. «Seelsorge bedeutet überall, Menschen zu begegnen, in welcher Lebenslage auch immer.»
10. Februar 2021 – beat.buehlmann@luzern60plus.ch