Birgit Aufterbeck Sieber. Foto: Joseph Schmidiger

Vom Zauber der Zerbrechlichkeit

Von Birgit Aufterbeck Sieber

Wann holen Sie die Weihnachtskugeln aus dem Keller? Vielleicht gehören Sie ja zu den Vorauseilenden, die den Weihnachtsbaum längst aufgestellt und geschmückt haben. Als Kind hatte ich die anspruchsvolle Aufgabe, die enge und wackelig ausgeklappte Dachbodentreppe hochzuklettern und die Kartons mit den gläsernen Weihnachtskugeln hinunterzubalancieren. Die ganze Familie schaute zur Deckenluke und hielt den Atem an. Natürlich kam es, wie es kommen musste: Der gealterte Pappboden löste sich vom Kartonrahmen, die Kugeln flogen nach unten und zersprangen auf dem Küchenboden in tausend Glassplitter.

Hätten meine Eltern diese Szene mit einer Hochgeschwindigkeitskamera mitgefilmt, was sie leider unterliessen, hätten wir erleben können, wie schön dieses Malheur in Wahrheit war. Ein funkelndes Feuerwerk aus Glas, dessen Bruchstücke bis zu 5000 Stundenkilometer erreichen. Das ist etwa fünfmal so schnell wie die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit von modernen Passagierflugzeugen.

«Das ist die Welt», philosophiert Goethe in der Hexenküche von Faust I. über den unberechenbaren Weltlauf, «sie klingt wie Glas – wie bald bricht das!» Meinem Vater fehlte dieser Sinn und er meldete mich stattdessen beim Kaufhaus unserer Stadt zur jährlichen Inventur an. Alles hätte ich für ein Knöpfezählen in der Kurzwarenabteilung gegeben, fand mich aber wie zu erwarten von zartstieligen Trinkgläsern, funkelnden Karaffen, Glasvasen und Glasplatten umgeben und erstarrte zur Säule. Doch bevor ein Unglück entstehen konnte, schenkte mir die Abteilungsleiterin Frau Kronenberg einen kostbaren Satz: «Glas will fest angefasst werden.» Das gab Selbstvertrauen und liess sämtliche Glaswaren meine Inventur überleben.

Zerbrechlichkeit umgibt uns fast überall. Es gibt kaum unzerstörbare Dinge. Wenn wir ein Glas in die Hand nehmen, spüren wir seine Kühle, die glatte Oberfläche, sein Gewicht und wissen intuitiv um seine Zerbrechlichkeit. Glas ist einer der ältesten von Menschen hergestellten Werkstoffe. Bevor es zerbricht, zersplittert oder zerspringt wurde Glas geblasen, gepresst, vielleicht geschliffen oder geätzt. Glas ist hart und unbiegsam, oft durchsichtig, manchmal feuerfest oder kugelsicher. Es zerspringt immer durch eine von aussen einwirkende Kraft: Fussball auf Fensterscheibe. Das geht auch musikalisch. Was der Sopranistin Monserrat Caballé in einem Werbespot gelang, schaffte der Amerikaner Jaime Vendera 2005 tatsächlich und brachte Glas mit einem schrillen, sehr hohen Ton zum Zerspringen.

Scherben bringen Glück? Erst einmal sind sie ärgerlich, meist teuer und auch gefährlich. Mag Glas heute noch so alltäglich sein: Märchen und Literatur schaffen es weiterhin, ihm einen Hauch von Zauber anzudichten. Ein schöner Prinz verliebt sich in das ebenso schöne Schneewittchen im – Sie wissen es – funkelnden Glassarg. Sein Höfling stolpert, der Glassarg kracht auf den Boden und Schneewittchen wird den giftigen Apfelschnitz wieder los. Unmöglich mit einem Eichensarg. Glasklar.

Obwohl leider niemand von uns mit einer Verpackung auf die Welt kommt, auf der «Vorsicht, zerbrechliches Material» steht, deutet alles darauf hin, dass die Zerbrechlichkeit ein wichtiger Teil von uns ist. Wir sehen dunkle Wolken am Horizont, die unseren Alltag bedrohen, manchmal gleicht unsere Realität einem Kartenhaus. So schön haben wir vorgeplant, und dann kommt doch alles anders.

Ein Moment der Unachtsamkeit, und schon ist die Stimmung in tausend Stücke zersplittert. Und während wir die Scherben des zerbrochenen Glases aufkehren, verstehen wir, dass es nicht die perfekten Momente sind, die uns verbinden, sondern die gemeinsamen Erfahrungen – die guten und die schlechten. Glas und Leben wollen fest angefasst werden, ob halbvoll oder halbleer. Denn am Ende sind es die kleinen Brüche, die uns daran erinnern, wie wertvoll und kostbar jeder Moment ist.

15. Dezember 2024 – birgit.aufterbeck@luzern60plus.ch


Zur Person
Birgit Aufterbeck Sieber, 1968 geboren, ist bei Düsseldorf aufgewachsen. Sie studierte Geschichte, politische Wissenschaften und Kunstgeschichte in Bonn und lebt seit 1999 in Luzern. Neben vielen Tätigkeiten in Wirtschaft und Medien war sie von 2015 bis 2023 Präsidentin der Stiftung Luzerner Theater. Sie setzt sich weiterhin für eine neue Theaterinfrastruktur in einer vielseitigen Kulturstadt ein.