Karl Bühlmann
Der Flaneur ist untwegs (19)
Lukas, Vers 23.34
Von Karl Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bilder)
Das Verkehrshaus der Schweiz ist geschlossen, ebenso der Strassenstrich, die Erotik- und Sexbetriebe, Tattoo- und Nail-Studios, die Sammlung Rosengart, das Kunstmuseum Luzern, überhaupt alle Museen und Galerien. Zuerst auf Anordnung des Regierungsrates, weil dies «öffentlich zugängliche Einrichtungen und Betriebe» sind. Inzwischen ist die Schliessung auch bundesamtlich. Alles wegen Co… Sie wissen schon. Dabei wären Wetter und Advent, Fest- und Nebeltage wie keine andere Zeit das Passendste für den Museumsbesuch. Zum Glück gibt’s Kunst auch im Freien, auch in Luzern. «Art in public spheres» heisst das in urbanen Milieus.
Der maskierte Flaneur umrundet das KKL mit dem geschlossenen Kunstmuseum, dessen Jahresausstellung mit Beiträgen von Zentralschweizer Künstler/innen drei Tage nach der Eröffnung geschlossen wurde. Er steht vor der Universität Luzern. Dort haben drei Teilnehmer eines «Certificate of Advances»-Kurses über «Sexuelle Gesundheit und sexuelle Rechte» eine Umfrage unter Studierenden gemacht. Was die in Spe-Sexualpädagogen im Fortschrittskurs herausfanden und das lokale Online-Medium hierauf publik machte ist besorgniserregend: 66 Prozent der befragten Männer gaben an, ihren Penisumfang noch nie gemessen zu haben, um so die richtige Kondomgrösse zu finden! Wie glücklich ist der Flaneur heute, dass er einst die Gründung der Universität begrüsste und unterstützte! Derartige Erkenntnisse, wie sie in der akademischen Bildungsanstalt am Frohburgplatz gewonnen werden, sind lebensrelevant. Oder gar systemrelevant? Es wäre angebracht, von einem internationalen Lichtkünstler auf dem Uni-Dach ein Zitat des Philosophen Alain Finkielkraut in Leuchtschrift aufzustellen: Es gibt eine Dummheit der Intelligenz und die Dummheit der Intellektuellen, die in Systemen denken. Der Diskurs darüber ist eine weitere Langzeit-CAS-Studie wert.
Auf zum Kunstspaziergang! Durch den Bahnhof zur abgeschrägten Ecke Frankenstrasse-Morgartenstrasse. Über dem einstigen Haupteingang des Gutenberghofes der Druckerfamilie Raeber befindet sich deren farbiges Familienwappen mit dem Traubenbüschel. Links davon ist das Wappen der Buchdruckerzunft – im Innenhof des Prunkbaues wurde bis 1959 das «katholisch-konservative Organ Vaterland» gedruckt. Das Wappen mit Eule und Buch in der rechten Ecke weist auf den Buchhändlerzweig der Familie hin. Oft war der Flaneur im dortigen Buchladen, noch häufiger in der Galerie, die von 1964-1979 mit 98 Ausstellungen ein wichtiges Forum für die Kunst der Zentralschweiz war. In dem aus Sandstein geformten Band im Wappenfenster kann mit etwas Mühe entziffert werden: «Fideliter Progredimur», was so viel heisst wie: Tüchtig schreiten wir voran.
Das tut der Flaneur jetzt und steht nach wenigen Schritten durchs Vögeligärtli vor der restaurierten Zentral- und Hochschulbibliothek. Der inzwischen denkmalgeschützte Bau mit der gediegenen Eleganz der Fünfzigerjahre wäre, man glaubt’s kaum, vor wenigen Jahren beinahe abgerissen und durch einen höheren Neubau ersetzt worden. Doch die Stadt siegte gegen den Kanton, und so lauscht jetzt an der Fassade über dem Eingang weiterhin Bildhauer August Blaesis steinerne Figur des Johannes den kündenden Visionen des darüber schwebenden Engels. Es bleibt ein Rätsel, warum der Evangelist Johannes ausgerechnet an diesem Ort entrückt die Ohren spitzt und nicht konzentriert schreibt oder ein Buch in den Händen hält. Hat er prophetisch die Hörbücher vorausgesehen und geahnt, dass jetzt in der neu eingerichteten Hörstation auch Luzerner Musik angehört werden kann?
Ein paar Schritte weiter und man steht vor der 1935 eingeweihte Lukaskirche. Ein eindrückliches Beispiel für die Architektur der Moderne in Luzern: Markant die schlichten, gedrungenen Formen des Stahlbetonbaus, markant die Freitreppe mit ihren 29 Granitstufen. Markant der kubische Turm mit seinen viereckigen Öffnungen auf allen vier Seiten, durch die der Glockenklang viel weiter als bis zum lauschenden Johannes, nämlich weit übers Hirschmattquartier schallt. Die Architekten Alfred Möri und Karl-Friedrich Krebs planten den Turm ein Stockwerk höher. Doch im katholischen Luzern kam das Vorhaben nicht gut an, der Turm eines reformierten Gotteshauses durfte die katholischen Kirchen nicht überragen! – Den säkularen Flaneur zieht’s ins Innere, nicht wegen der Kälte, sondern weil ihn dort farbige, moderne Kunst erwartet, ein wunderbares Farbenspiel zur Weihnachtszeit: Das monumentale dreiteilige Chorfenster mit dem Thema «Auferstehung», in dessen Bildgeschehen mit vielen um die zentrale Christusgestalt gruppierten Figuren man unten in der Mitte den bärtigen, schreibenden Lukas entdeckt. Die Buchstaben auf seiner Schreibtafel können aus Distanz nicht entziffert werden. Jeder und Jede darf sich das ihm passende Lukas-Zitat aussuchen. Vielseitig und häufig verwendbar angesichts der täglich widersprüchlichen Aussagen von Experten, Prominenten, Politikern, Kommentatoren, Influencern, Shitstürmern (die weibliche Form ist immer mitgedacht) bleibt Lukas-Vers 23. 34. Mit einer kleinen Modifikation: «Vater vergib ihnen. Sie wissen nicht, was sie sagen.»
Glasbilder von Louis Moilliet (1880-1962)
Entworfen wurden die Glasbilder vom Berner Maler Louis Moilliet (1880-1962), der 1914 mit den Künstlerkollegen Paul Klee und August Macke die in der Kunstgeschichte legendäre Tunisreise unternommen hatte. Ausgeführt wurden die Glasbilder vom Luzerner Glaskünstler Edy Renggli. Von Moilliet stammen auch die ornamentale Rose an der Nordwand sowie die vierzehn Seitenlichtfenster. Auf deren 350 Rauchquarzgläsern vereinen sich abgerundete Trapezoide zu einem farblich ausgewogenen Puzzle von Formen. Wenn der Flaneur jeweils bei Konzerten in der Lukaskirche seine Ohren der Musik leiht, verweilen die Augen in Moilliets Farbenpartitur mit der kompositorischen Bezeichnung «leggiero». – Übrigens: Jean-Christophe Amman, der 1969-1977 das Kunstmuseum Luzern leitete und dem Haus zur internationalen Aufmerksamkeit verhalf, schrieb seine Dissertation an der Universität Fribourg über eben diesen Louis Moilliet.
Zur Person:
Karl Bühlmann (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der ‚Luzerner Neuesten Nachrichten', 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.