Helen Christen. Bild: Joseph Schmidiger

Verzwergungen

Von Helen Christen

«Deutschschweiz und Diminutiv, das ist eine Liebesgeschichte», schreibt Thomas Widmer im «Magazin» vom 4. Juni 2022 und schnappt mir unter dem Titel Frögle – schwupps – (fast) meine Kolumne weg. Vor allem die Verben haben es ihm angetan, denen man im Schweizerdeutschen mit der Endung -ele einen so wunderbaren Dreh verleihen kann. Er erwähnt pöpperle, chöschele, tüüschle, schmüüsele, die sich beliebig weiterspinnen lassen: computerle, bäschele, velööle... Diesen -ele-Verben kann ein ganzes Bündel unterschiedlicher Bedeutungsschattierungen abgewonnen werden: Sie verkleinern nicht einfach, sie verzärtlichen (schlööfele), sie verharmlosen (mämmele für gewohnheitsmässiges Alkoholtrinken), sie stellen eine Tätigkeit dar als unernsthaft (schäffele für nicht zielgerichtetes Vor-sich-hin-arbeiten) oder als sich lustvoll hinziehend (aperööle).

Grosszügig überlässt mir Thomas Widmer die verkleinerten Substantive, die glücklicherweise auch nicht ganz ohne sind. Mit den Verkleinerungsendungen nämlich kann nicht nur objektiv mess- und wahrnehmbare Kleinheit ausgedrückt werden. Vielmehr ist Kleinheit Ausgangspunkt für Übertragungen in ganz gegensätzliche Sphären: Zärtlichkeit – Schätzali* – oder spöttische Herabsetzung – Schulmeisterlein (so bezeichnet Gottfried Keller in seiner Novelle «Die missbrauchten Liebesbriefe» einen etwas verschupften Lehrer). Die Herabsetzung baut darauf, dass eine Verkleinerung unweigerlich den Vergleich mit dem Nicht-Verkleinerten nach sich zieht und zuungunsten der Verkleinerung als des Minderen ausfallen muss. Die Zärtlichkeit jedoch entfaltet sich im Schutzraum gegenseitiger Nähe. Dort ist Kleinheit und damit einhergehende Verwundbarkeit nicht nur erlaubt, sondern deren Zulassen ist gerade Zeichen besonderen Vertrauens und besonderer Zuneigung. Der Zwerg aus zwei Blickrichtungen also: als minderwertiges Geschöpf oder aber als niedliches Wesen.

Die Liebesgeschichte von Deutschschweiz und Diminutiv ist sogar dermassen innig, dass es schweizerdeutsche Wörter gibt, die auf ihre Verkleinerungssilbe angewiesen sind, weil sich ohne sie die Bedeutung verändert: Das Müesli ist kein kleines Mues, sondern eine Schweizer Spezialität, die weltweit als Müsli – über dieses Mäuschen zum Frühstück können sich Deutschschweizer/innen nur wundern – auf den Tisch kommt. Das Rüebli (daucus carota) ist keineswegs eine kleine Ruebe (beta vulgaris). Das Heftli ist eine Illustrierte, das Heft dagegen besteht aus zusammengehefteten Blättern unbeschriebenen Papiers (und ein Heftli ist bizarrerweise meist erst noch umfangreicher als ein Heft). Manchmal ist gar die Form der Verkleinerungsendung ausschlaggebend für unterschiedliche Bedeutungen: Hüüsali meint ein Karo, Hüüsli dagegen das WC. Und auch das Inventar an Deutschschweizer Familiennamen strotzt vor Diminutiven: Das Telefonbuch weist für eine zufällig ausgewählte Strasse in der Stadt Luzern Abonnent/innen mit den Namen Eberli, Haefeli, Käppeli, Muggli, Stöckli aus. Ob diese Namen im Einzelnen wohl aus zärtlichen oder spottenden Verkleinerungen entstanden sind?

Zudem gibt es Verzwergungen, die nicht auf das Substantiv selbst abzielen, sondern gewissermassen als raffinierte kommunikative Weichspüler heikler Umstände fungieren. Biete ich nämlich meinen Gästen noch ein Stückli Kuchen an, dann ist dieses vorgeblich limitierte Angebot nicht etwa mangelnder Freigebigkeit geschuldet. Vielmehr dient die Verkleinerung dazu, die Gäste nicht zu behelligen: Sie dürfen ganz nach eigenem Gusto verzichten oder auch wirklich nur ein ganz kleines Stückli kosten. Eine gewisse Wachsamkeit ist allerdings dann am Platz, wenn einem zum Beispiel vor der Unterzeichnung eines überteuerten Versicherungsvertrags ein Käfali angeboten wird. Das Käfali soll wohl die Situation verharmlosen und signalisieren, dass keineswegs unlautere Absichten im Spiel sind. Wird man von jemandem auf ein Gläsli Wii oder ein Wiili eingeladen, schwingen eine gewisse Unverbindlichkeit und die Aussicht auf ein paar unbeschwerte Stunden mit. Wann aber sind solche Ich-meine-es-gut-mit-dir-Verzwergungen schlichtes Kalkül? Zum Glück ist die Liebesgeschichte von Deutschschweiz und Diminutiv derart erprobt, dass man längst gelernt hat, zwar vieles zu verkleinern, den gesunden Menschenverstand davon jedoch zumeist ausspart.

Soodali!

*Die Schätzali usw. heissen andernorts auch Schätzeli oder Schätzili.

16. September 2022 – helen.christen@luzern60plus.ch


Zur Person
Helen Christen, geboren 1956, ist in St. Erhard aufgewachsen und wohnt seit vielen Jahren in Luzern. Bis zu ihrer Emeritierung war sie Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü. Das Interesse an der deutschen Sprache in all ihren Facetten und die Lust an der Vermittlung linguistischen Wissens waren nicht nur die Triebfedern in ihrem Berufsleben, sondern prägen auch den neuen Lebensabschnitt.