Der «Raum der Stille» im Alters- und Pflegeheim Landgut Unterlöchli. Bild: Dany Schulthess
Über vergessene Kunstorte
«Der Flaneur» ist wieder unterwegs, diesmal an der Peripherie der Kunst- und Kulturstadt Luzern (26. Ausgabe).Von Karl Bühlmann
Der Rand sei die Heimat der Innovation. Das behaupten die Megatrend-Experten. Also denn, raus aus der Kernzone, auf zum Stadtrand, die Endstation der Buslinie 7 heisst «Unterlöchli». Die Wesemlianer hatten wenig Freude, als vor zwei Jahren das Doppelwort «Wesemlin-Unterlöchli» auf den Bussen und in den Fahrplänen aufgrund des Beschriftungsstandards «V580-FIScommun» verschwand. Der Stadtrat beharrte aufgrund «historisch-topografischer Argumente» auf den alten Liegenschafts- und Flurnamen. Was solls? Der Name klingt wenig edel, hat keinen globalen Sound, weshalb auch keine chinesischen Touristenbusse dort Halt machen.
Nirgendwo Gedränge, zügig steure ich dem Eingang zum Alters- und Pflegeheim Landgut Unterlöchli zu. In der Lobby folge ich der Beschriftung, halte nach rechts. Ouvertüre an den Wänden mit Bildern von Hans Schärer, Maria Zgraggen, Jacinta Candinas, Godi Hirschi. Den modernen Kammermusiksaal, ein Minimini-KKL in Rot, lasse ich beiseite und betrete den Raum der Stille.
Wow! Entrückt bleibe ich stehen, sakrale Stimmung holt mich aus dem Draussen ab. Aus der runden Öffnung der Decke strömt Tageslicht in den kleinen Raum. Goldfarbene Linien überziehen wie Wellen von Höhenkurven die Wände von unten bis oben. Die Augen nehmen eine transparente hügelige Landschaft oder bewegte See wahr. Die Begrenztheit des Raumes ist aufgehoben, es gibt weder Anfang noch Ende, spirituelle Stimmung breitet sich aus. Eine Entdeckung, ein Ort, wo man den Puls herunterfahren kann, hoffentlich wird es nie zu einem Mehrzweckraum. Die Künstlerin Lea Achermann hat den Raum im Auftrag der Gemeinnützigen Gesellschaft Luzern gestaltet. Das Haus ist ein kleines Schaulager mit Werken lokaler Kunstschaffender in Gängen und Räumen.
Beglückt vom Erlebten beschliesst der Flaneur, weitere Kunstorte in der Nähe aufzusuchen, denen wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird oder die ganz vergessen gegangen sind. Er setzt den Spaziergang querfeldein der Stadtgrenze entlang über Oberlöchli, Lamperdingen und Utenberg fort.
Nächster Halt ist das 1975 eröffnete Schulzentrum Utenberg, damals Luzerns grösste Schulanlage «der Superlative» (so stand es in den LNN). Die 600 Schülerinnen und Schüler waren auf 21 Klassen verteilt (hallo Klassengrösse heute!). 19,55 Millionen Franken hatte der Bau gekostet (hallo Teuerung: Ebenso viel kostete dreissig Jahre später die Sanierung). Zehn Kunstschaffende waren eingeladen, ein Projekt zur künstlerischen Wand- und Platzgestaltung einzureichen. Die aus Männern bestehende Jury mit der dominierenden Figur Jean-Christoph Ammann, Direktor – damals «Konservator» genannt – des hiesigen Kunstmuseums, entschied sich für die Doppel-Eingabe von Andreas Gehr und Olga Zimmelova.
Das Wandbild von Olga Zimmelova hat Zuwachs bekommen. Bild: Imkontext
Für das Künstlerpaar, frisch verheiratet, kam der Auftrag wie ein Hochzeitsgeschenk daher, war allerdings mit auszuführender Arbeit verbunden. Auf der 15 Meter langen Wand in der Eingangshalle zum Turnhallentrakt malte Olga eine märchenhafte Szenerie mit schwebenden und schwimmenden Formen aus Botanik und Zoologie unter dem Regenbogen in einem Aquarium. Wie das in öffentlichen Bauten oft der Fall ist: Ein Teil des Bildes ist durch zwei Garderobeständer und einer Abfallbox verstellt.
Andreas schuf im Freien auf grüner Wiese eine Skulpturenanlage mit organisch geformten Marmorblöcken. In der Mitte zerfliesst der grosse Steinkörper mit dem vulkanischen Krater wie weiche Masse auf die Wiese. Die kleineren Blöcke ringsum sind wie Überbleibsel erkalteter Lava aus der stattgefundenen Explosion. Dass es sich beim Material um kostbaren Marmor handelt, ist längst nicht mehr ersichtlich. Die Blöcke sind verschmutzt, schwarzer Feinstaub verbirgt die rötliche Marmorierung. Eine erklärende Beschriftung? Fehlt. Interessiert sich niemand für die künstliche Landschaft? Warum reinigt die Stadt regelmässig Strassen, nicht aber öffentliche Kunstwerke, die in ihrem Besitz sind? Im Übrigen hatte der Künstler ursprünglich vorgesehen, dass der Krater von unten her mit Wasser gespiesen wird, das überfliesst und unten am Boden aufgefangen wird.
Andreas Gehrs «Vulkan» aus Marmor hätte eine Putzete nötig. Bild: Isolde Bühlmann
Durch die kurze Gundoldingerstrasse, gerader Wurmfortsatz der Dreilindenstrasse, die auf der Kuppe abzweigt, gelange ich zum Haus Nr. 58. Es liegt in einem kleinen Zwickel, eingerahmt von drei Strassen, der älteren Generation unter dem Namen «s’Glättiise» bekannt. Hinter Häusern können sich fragwürdige wie wahre Geschichten verbergen. Hier sei, so früher das Gerücht und vornehm ausgedrückt, ein Etablissement gewesen, das der alte Señor Kiefer von der Villa Vicovaro vom Hügel frequentiert habe.
Ganz sicher ist, dass der aus Berlin stammende Künstler Ernst Maass (1904–1971) einmal dort gelebt hatte. Der staatenlose Flüchtling, der die Einberufung in die deutsche Wehrmacht verweigert hatte, durfte während der Kriegsjahre keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, obwohl Luzerner Freunde bei der Fremdenpolizei eine Aufenthaltsbewilligung erwirkt hatten. Aus jener Zeit stammen Briefe (in der Sammlung des Flaneurs), worin Maass seinem Bekannten W. K. klagt: «Es droht schon wieder mal eine gewaltige Pleite, das ist z. K. Das heisst so viel wie ‹zum Kotzen›, was man aber als kultivierter Mensch, den man sein möchte, keinesfalls tut, nicht einmal ausspricht, das kleine z. K. als Vorstufe des grossen K., wie sich M.V.M. mit Wollust auszudrücken beliebt. Ich bin so pleite. Ein Werk, das ich im Laufe der Woche hätte fertig machen sollen, wurde nicht fertig. Es brennt unter dem Dach. Denk an mich.»
Mit M.V.M. war der grosse Surrealist Max von Moos gemeint, mit dem der kleine Surrealist Maass befreundet war. Im Jahrzehnt der grössten Not, 1935 bis 1945, malte Maass die eindrücklichsten Bilder; es sind Stillleben und kulissenartige Landschaften, die als Visionen der persönlichen Situation und der Unzeit gedeutet werden können. Später besserte sich die existenzielle Lage: Ehefrau Elsa Strehmel erhielt eine Anstellung im Büro des Stadttheaters, Ernst Maass konnte ausstellen, er schuf das Keramik-Relief am Haus Hirschmattstrasse 1 und ein Mosaik in der Schalterhalle der einstigen Volksbank an der Bahnhofstrasse. Kurz vor seinem, frühen Tod vollendete er die grosse «Voreiszeitliche Landschaft» im Gletschergarten-Museum.
Die Bushaltestelle neben dem «Glättiise» heisst noch immer «Konservatorium», obwohl dieses 2019 vom Hügel herunter in den Campus Südpol umgezogen ist. Eigentlich könnte die Station wieder die frühere Bezeichnung «Aurora» tragen.
Mich ziehts auf die Höhe zum Dreilindenpark, der nächstgelegene Treppenweg mit über hundert Tritten treibt auch den Puls hinauf. Zur Liegenschaft auf dem vier Hektar grossen englischen Park gehören Pförtnerhaus, Ökonomiegebäude und das «Schlösschen». Letzteres ist eine stattliche Villa mit Zinnen, Erkern und Türmchen im old english style, 1890 von einem englischen Architekten errichtet. Es war der Sommersitz der Amerikanerin Eleonora Lorillard Spencer aus New York, die durch Heirat zur Eleonora Cenci, Fürstin von Vicovaro, geworden war. Nach deren Tod kam es zu Handänderungen.
1923 wurde der herrschaftliche Besitz zum frühzeitigen Altersitz der Auslandschweizer Charles und Mathilde Kiefer-Hablitzel, die in Brasilien dank Geschäftstüchtigkeit innert kurzem zu Ansehen und Vermögen gekommen waren. Die Geschichte, wie die Stadt Luzern vor 74 Jahren in den Besitz der Liegenschaft kam und die Musikausbildung dort einzog, warum und wie vor kurzem der Deal mit dem Kunstsammler und Mietinteressenten Robert Landau und dessen Skulpturenpark-Projekt platzte, findet hier nicht Platz genug. Später vielleicht einmal.
Ein Omen auf die Zukunft des Dreilindenparks? Bild: Imkontext
Hergewandert bin ich für die Schlussrunde rund um dem schönsten städtischen Park mit prächtigen, alten und seltenen Bäumen, um den Zustand von zwei Kunstobjekten im Freien zu visitieren. Ich passiere die in Kette gelegte Zeitzeugin und letzte Linde (von einst dreien), vor vielen Jahren vom Blitz getroffen und gefesselt am Leben erhalten. Unversehens ist der beschädigte Baum zur Allegorie der verbremsten Dreilinden-Zukunft avanciert.
Rudolf Blättlers «Mann und Weib» in Bronze steht als massig-wehrhaftes Wächterpaar in einem Rondell. Narrenhände haben kürzlich die Lippen und Brüste der Erdmutter mit Kreide rosig malträtiert. Seit dreissig Jahren steht die Doppelfigur an diesem Standort, aber die Stadt hat es bisher nicht geschafft, eine Beschriftung anzubringen mit Titel, Namen des Künstlers und des Spenders G. A. Ein Kunstwerk anzuschreiben, ein Geschenk zu verdanken, wäre anständig und ein Must, nachdem in der öffentlichen Verwaltung und Bürokratie längst Transparenz gefordert ist.
Geschminkt und punktiert: «Mann und Weib» von Rudolf Blättler. Bild: Imkontext
Bevor der Flaneur das Pförtnerhaus erreicht, erblickt er das würfelartige Steinobjekt, das am Konsifest 1992 dort platziert wurde. Geschaffen hat es Katharina Sallenbach (1920–2013), Ehefrau von Rudolf Baumgartner, der 27 Jahre lang Direktor des Konservatoriums war. Auch hier steckt kein Täfelchen mit Information vor dem Werk.
Der «Konus» von Katharina Sallenbach war ursprünglich weiss. Bild: Hansruedi Rüfenacht
Seit wann der Stein nicht mehr gereinigt wurde, weiss wahrscheinlich niemand im Stadthaus und von Stadtgrün. Das Objekt war ursprünglich weiss, jetzt ist er geschwärzt, als ob er durch einen Kamin gerutscht wäre. – Es gäbe jeden Frühling einiges zu tun in der Kunst- und Kulturstadt Luzern, gerade an den Rändern. Aber nicht mit Hochdruck-Kärcher und Powerreiniger, bitte.
15. Juni 2024 – karl.buehlmann@luzern60plus.ch