«Wir müssen Menschen mögen»: Traude Scagliola.
Um Ecken herum denken
Die Luzerner Psychologin Traude Scagliola ist eine unermüdliche Kämpferin. Dort, wo die meisten aufhören nachzufragen, hakt sie nach, auch als über 80-Jährige.
Von Hedy Bühlmann (Text und Bild)
Traude Scagliola, Jahrgang 1941, Schweizerin und Österreicherin. Dem Leben tritt sie furchtlos entgegen. Der Vater war während des Zweiten Weltkrieges nach schweren Kämpfen an der russischen Front auf Spitzbergen in Norwegen stationiert. Der Zug, mit dem er vom Krieg heimkehren sollte, wurde kurz vor Wien bombardiert. Niemand überlebte.
Den Vater hatten Traude und ihre Schwester Rosita an die Sinnlosigkeit des Krieges verloren, die Mutter ein paar Jahre später an einen Mann, der ihr die Ehe angeboten hatte, allerdings ohne an die beiden Mädchen zu denken. «Die Zeiten waren schwer, es ging ums Überleben», sagt sie ohne jeglichen Groll. Das Bild der Mutter, die mit der Hochzeitsgesellschaft in ihre Zukunft tanzt, ist ihr geblieben, wie auch das starke Gefühl, dass es Zeit war, Verantwortung zu übernehmen für sich, die anderen und das Leben.
Neugier und Grosszügigkeit
Traude und Rosita lebten fortan bei ihrer Grossmutter. Die beiden Mädchen sprachen die Grosseltern in der Höflichkeitsform «Ihr» an. «Von der Grossmutter», sagt sie, «habe ich gelernt, das Leben zu lieben, die Natur, die Pflanzen und deren heilende Kräfte zu respektieren, den Menschen mit Neugier und Grosszügigkeit zu begegnen». Diese Haltung hat sie verinnerlicht und gibt sie in ihren Beratungen und Begleitungen weiter.
Die Grossmutter sei eine spirituelle Instanz gewesen. Die Leute seien von weither gekommen, um sich von ihr beraten und von ihrer Weisheit und Weitsicht inspirieren zu lassen. Sie habe eine tiefe Zufriedenheit und Sicherheit ausgestrahlt. Scagliola hat ihre Geschichte nie als schwierig wahrgenommen. Wenn sie in der Schule von anderen Kindern ausgelacht wurde, weil sie offenbar anders war, sagte sie sich: «Ihr wisst gar nicht, wie reich ich dafür an Wissen bin», und liess die Hänseleien gut sein.
Das Gefühl von Sicherheit und Zuversicht nahm Scagliola als junge Frau in die Schweiz mit. Zu ihrer Berufswahl zuhause in Österreich sagt sie, es sei einiges schiefgelaufen: «Ich sah mich als Kindergärtnerin. Da ich keinen Ausbildungsplatz fand, absolvierte ich die Aufnahmeprüfung für die Wirtschaftsakademie.» Als sie mit der Wirtschaftsakademie in Wien hätte starten sollen, gab ihr das Leben eine andere Aufgabe, sie pflegte ihre kranke Grossmutter.
Lebenserfahrung vor Lehre
Dann entschied sie sich als 18-Jährige, in die Schweiz auszuwandern. Schliesslich startete sie ihre berufliche Laufbahn vor über sechzig Jahren im Kostümatelier des Luzerner Stadttheaters. Ohne Berufsausbildung, voller Mut und einiger Lebenserfahrung. Dann verliebte sich Traude, heiratete in eine italienische Grossfamilie ein und hat mit ihrem Partner zwei Kinder. Das Paar lebte in Luzern. Traude erinnert sich an die erste Wohnung mit Guido: «Wir beide waren Kriegskinder und aus unserem Familiensystem gefallen. Die erste Wohnung gab uns ein grossartiges Gefühl. Wir konnten zum ersten Mal im Leben von einem gemeinsamen ‹Daheim› sprechen.»
Und da war auch dieser unbändige Wille von Traude, zu arbeiten und etwas zu bewirken. Von der Verwandtschaft wurde dieser Wunsch als «bedürftig» wahrgenommen, denn eine Mutter mit zwei Kindern arbeitet nicht! Auf Einschränkungen reagierte sie mit Handeln und wurde für eine Organisation tätig, die Kindern aus Frankreich Ferien in der Schweiz ermöglichte. Dann kehrte sie als Regieassistentin zum Theater zurück, arbeitete als Produktionsassistentin beim Film, war Mitbegründerin der ersten Schule für Naturheilkunde in der Schweiz und schrieb sich parallel dazu als Gasthörerin in Philosophie an der Universität Zürich ein. Arbeit und Familienleben trennte sie nie. «Das gehört doch zusammen», betont sie, «die beiden Lebensbereiche befruchten sich gegenseitig.»
Sich neu erfinden
Wo andere aufgeben und schier verzweifeln, kommt die Psychologin erst richtig in Fahrt. Bis heute engagiert sie sich für diejenigen, die sich vor Krieg und staatlicher Rechtslosigkeit ins Unbekannte retten müssen, die sich auf der Flucht in Not befinden, die isoliert von Familie und Freundeskreis ihre persönliche Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen und Normen suchen müssen. Oder für eine befreundete Familie, die sich vor politischer Verfolgung ins Ausland absetzen und ihre Zukunft als Asylsuchende in der Schweiz komplett neu organisieren muss.
Scagliola lebte vielen Menschen in Krisensituation souverän vor, wie das mit dem Sich-neu-erfinden geht. Sie weiss, wovon sie spricht: «Als 54-Jähige habe ich meinen Lebensentwurf nochmals umgekrempelt und wieder bei Null angefangen, vom Partner getrennt, die Kinder erwachsen.» Damals hat sie am Szondi-Institut in Zürich mit der Ausbildung in schicksalsanalytischer Psychotherapie und Beratung begonnen. Nach dem Abschluss als psychologische Beraterin hat sie sich zusätzlich in Ressourcenmanagement weitergebildet. Ihre Freude über die geglückte Neuerfindung ihrer selbst kommentiert sie mit einem schelmischen Lächeln: «Phänomene, die in der Psychologie und Philosophie verortet sind, waren immer schon wesentliche Bestandteile meines Lebens.»
Anders handeln
Kennengelernt haben sich die Schreibende und Traude Scagliola vor fast zwanzig Jahren. Damals rekrutierte sie Personal, und in der Abteilung hatte sie das Sagen. Bei der Auswahl von Mitarbeitenden orientierte sie sich nach deren Potenzial, Lebenserfahrung und Interkulturalität. Kommunizieren sollten die Neuen auch können. Nach Gesprächen mit ihr als meiner Chefin war ich jeweils ziemlich verunsichert. Sie dachte um Ecken herum, hatte ungewöhnliche Ideen, wie Menschen bestärkt werden können und vertrat diese energisch. «Wenn wir mit Menschen arbeiten, die Unterstützung brauchen, und diese Arbeit gelingen soll, müssen wir Menschen mögen.» Davon ist sie überzeugt.
Um Ecken herum zu denken ist für sie Garantie, in der Beratung anders zu handeln und in neuen, ungewohnten und unbekannten Situationen das Richtige zu tun. Das Richtige definiert jeweils die Person selbst, die nach Rat sucht. Indem sie nachfragt, sich in Frage stellt, begibt sie sich in unsichere Gefilde. Und da ist Scagliola, die zuhört und die Leute so weit bringt, dass sie über sich hinauswachsen können. Dafür setzt sich die über 80-Jährige nach wie vor vehement ein.
21. Februar 2024 – hedy.buehlmann@luzern60plus.ch