Linguistin Helen Christen. Bild: Joseph Schmidiger

Tennis statt Squash

Von Helen Christen

Ebenso unzählig wie ungeniert sind die Fragen drei-, vierjähriger Knirpse: «Warum ist der Mann dort so dick?» «Warum hat Monika einen neuen Mann?» Nicht zu beneiden, wer die Sache vor lauschenden Ohren gesichtsschonend wieder ins Lot bringen muss. Im Fröögli-Alter wollen die Kinder Antworten, um sich einen Reim aufs Leben zu machen. Sie lernen dann aber allzu bald, dass sie gewisse Fragen besser nicht stellen.

Das Fragenstellen scheint einigen im Laufe ihres Lebens sogar gänzlich abhanden zu kommen. Immer wieder treffe ich Frauen und Männer, die mich zutexten, ohne auch nur eine einzige Frage danach zu stellen, was mich gerade umtreibt, wie bei mir die Dinge stehen. Dafür ungeheissen Ferienerlebnisse à discrétion, Erörterungen über das Mikroklima am Arbeitsplatz oder pausenlos plätscherndes Blabla. Krieg ich doch mal wider Erwarten einen Fuss in den Monolog rein, so wird mein Einwurf unverzüglich zum Stichwortgeber umgenutzt und postwendend wieder das eigene Süppchen gekocht. Als Gegenüber kommt man sich schlicht veräppelt vor. Und ärgert sich, dass einem die gute Erziehung einen Strich durch die Rechnung macht.

Mit einer billigen Ausrede das Weite zu suchen oder gar Tacheles zu reden, verbietet man sich. Stattdessen: freundlich nicken, den Kopf leicht schräg halten, ab und zu ein «Hm» oder ein «Aha» als Aufmerksamkeitssignal einstreuen, ja sogar eine kleine Nachfrage stellen. Derlei pflegliches Verhalten gegenüber kommunikativen Geisterfahrer:innen ist leider Gottes missverständlich. Obwohl ich am liebsten aus der Haut fahren möchte: Das Gegenüber fühlt sich womöglich bestätigt, gerade ein besonders bereicherndes Zwie(!)gespräch zu führen.

Wohlmeinend könnte ich dieses Verhalten als Langzeitfolge des kindlichen Fröögli-Verbots diagnostizieren und es nachsichtig gut sein lassen. Leute mit Fragen zu löchern, wird als unanständige Grenzüberschreitung geächtet. Lieber Diskretion bewahren und seine eigenen Angelegenheiten bewirtschaften, als unversehens auf ein heikles thematisches Terrain geraten?

Da ich aber chronisch zur stumm nickenden Zuhörerin degradiert werde, fällt mein Urteil weit weniger gnädig aus. Mit dem Keine-Fragen-Stellen verbinde ich schlicht einen Mangel an Empathie einerseits und fehlendes Interesse an allem, was über die eigene Grossartigkeit hinausreicht, andererseits. Dabei führt uns bereits die mittelalterliche Literatur die Konsequenzen von Frageversäumnissen vor Augen. Parzival aus dem gleichnamigen Versroman stellt am Artushof dem sichtlich leidenden Gralskönig Anfortas die so naheliegende Frage nach dessen Wohlergehen nicht und muss die Gralsburg deshalb wieder verlassen.

Dem unbeholfenen Parzival kann zugutehalten werden, dass ihm das Fröögli-Verbot quasi als ritterliche Tugend mit auf den Weg gegeben wurde. Erst bei seinem zweiten Besuch am Artushof überwiegt jedoch sein Mitleid und er stellt die alles entscheidende Frage: «œheim, waz wirret dier?» («Oheim, was quält dich so?»; Wolfram von Eschenbach: Parzival, Abschn. 795, Vers 29; um 1200). Diese «Erlösungsfrage» leitet unverzüglich die Genesung des kranken Anfortas ein und Parzival kann zu guter Letzt doch noch Gralskönig werden.

Es ist natürlich etwas vermessen, das, was der Dichter Wolfram von Eschenbach mit prächtiger literarischer Kelle anrichtet, auf eine Tafelrunde des 21. Jahrhunderts mit einem frageabstinenten Gast oder auf ein Stelldichein mit einer unablässig plaudernden Bekannten zu übertragen. Und doch: Auch hier ist es die mangelnde Anteilnahme am Gegenüber, die stört und verletzt. Anders als bei Parzival scheint mir aber bei gänzlicher Frage-Enthaltsamkeit noch ein weiterer Aspekt ins Spiel zu kommen. Das Frageversäumnis nämlich liefert ein willkommenes Quantum an Sprechzeit für die verbalen Pirouetten, mit denen man sich ungehindert um die eigene Bedeutsamkeit drehen kann – die braven Zuhörer:innen sind dabei nichts als die Wand, die eine Art von kommunikativem Squash ermöglicht.

Kann man Tennis bekanntlich nur zu zweit spielen, so geht Squash auch alleine. Beim Tennis sind die Schläge die Antworten auf das Spiel des Gegenübers. Wer mit sich selber (verbales) Squash spielt, hat zugleich Aufschlag und Rückschlag. Dafür braucht es allerdings eine stabile (Zuhör-)Wand, an der der Gummiball abprallen kann. Diese ist unentbehrlich, ohne sie geht gar nix. Trotzdem: Ich plädiere für Tennis statt Squash!

16. Februar 2025 – helen.christen@luzern60plus.ch


Zur Person
Helen Christen, geboren 1956, ist in St. Erhard aufgewachsen und wohnt seit vielen Jahren in Luzern. Bis zu ihrer Emeritierung war sie Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü. Das Interesse an der deutschen Sprache in all ihren Facetten und die Lust an der Vermittlung linguistischen Wissens waren nicht nur die Triebfedern in ihrem Berufsleben, sondern prägen auch den neuen Lebensabschnitt.