Symbolbild Sex nach Sechzig.

Sex nach 60. Alles ist O.K.! – Also fast.

Wenn Menschen in die Jahre kommen, verändert sich mit ihrem Körper meist auch die Sexualität. Was ist richtig, was läuft falsch? Darauf kommt es nicht an. Ausprobieren heisst die Devise – und etwas mehr Mut.

Von Eva Holz (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Wie hast dus mit dem Sex? Nun ja, was in jungen Jahren im tief vertrauten Freundinnenkreis noch locker-lustig ausgetauscht wurde, geht in fortgeschrittenem Alter nicht mehr leicht über die Lippen. Plaudereien, wie es im Privaten so läuft, machen meist vor der Schlafzimmertür Halt. Dabei käme beim Erzählen über Intimes vielleicht einiges zur Sprache, das weiterhilft, bestätigt, entlastet, gar amüsiert. Stattdessen klären uns Forschungsergebnisse und Fachleute darüber auf, was in Sachen Sex noch los ist und sein könnte. Und da liegt offensichtlich alles drin – von reger Tätigkeit im Bett bis zu unbekümmerter Abstinenz.

Körperliche Veränderungen

Der Körper von Mann und Frau altert naturgegeben mit der Zeit – samt allen Konsequenzen. In «Geo Wissen» beschreiben das Henning Engeln und Tilman Bothenhardt so: «Am Beginn des letzten grossen Lebensabschnittes steht der menschliche Körper vor einer Umwälzung, die wohl viele ähnlich gravierend wahrnehmen wie die in der Pubertät. Die Produktion der Sexualhormone sinkt bei den Frauen dramatisch. Nicht selten ziehen sich Hitzewallungen, Schlaflosigkeit und Gemütsschwankungen über Jahre hinweg. Dazu verändern sich Körperproportionen und Hautfestigkeit. Viele Frauen beunruhigt das und lässt sie glauben, nicht mehr attraktiv zu sein. Obendrein kann die Erregbarkeit abnehmen. Der nach den Wechseljahren gesunkene Östrogenspiegel im Blut macht zudem die Scheidenhaut dünner und trockener, was beim Geschlechtsverkehr zu Schmerzen führt. Das fördert nicht gerade die Lust auf Sex.»

Und wie verhält es sich bei den Männern? Dieselben Autoren dazu: «Der Testosteronspiegel verringert sich bereits ab dem 40. Lebensjahr unaufhörlich. Das bleibt nicht ohne Folgen. Die Erektionen bauen sich langsamer auf, sind weniger stark, auch die Intensität des sexuellen Erlebens insgesamt ist verringert. Ihre sexuelle Stärke nicht mehr unter Beweis stellen zu können, hat für Männer etwas Demütigendes und erschüttert ihr körperliches und seelisches Selbstverständnis. Das erklärt auch den enormen Erfolg erektionsfördernder Medikamente.»

Alles in allem ein harter Befund. Aber auch das ist in «Geo Wissen» zu lesen: «Fantasien und erotische Gefühle sind keinem naturgegebenen Alterungsprozess unterworfen, bei Frauen ebenso wenig wie bei Männern.»

Neue Arten von Sexualität

Körperliche Veränderungen respektive Beeinträchtigungen, teilweise gesundheitsbedingt, bedeuten also längst nicht für alle das Ende von sexueller Aktivität. Was vielfach anders wird, ist die Art und Weise der gelebten Sexualität: individueller und bedürfnisorientierter. Intimität, körperliche Nähe und das Gefühl von Verbundenheit spielen fortan eine grössere Rolle als «nur» der Geschlechtsakt. (Mehr darüber in den Schilderungen der Luzerner Seniorin Miette Vonarburg im dritten Beitrag.) Umgekehrt beweisen Umfragen, dass nicht wenige Frauen zwischen 60 und 80 Jahren «richtigen» Sex haben, noch mehr Frauen äussern Interesse daran, kommen aber nicht auf ihre Rechnung, weil die Männer wenig Lust zeigen. Und: Selbstbefriedigung hat einen bedeutenden Stellenwert. Birgit Kollmeyer, Paar- und Sexualtherapeutin in Bern, erklärt: «Selbstbefriedigung ist für die meisten Menschen wichtig und wird unabhängig von Geschlecht, Beziehungsstatus, sexueller Orientierung und Alter ausgeübt. Leider sind Scham- und Schuldgefühle noch viel zu verbreitet. Aus paar- und sexualtherapeutischer Sicht ist auch nichts dagegen einzuwenden, wenn Selbstbefriedigung genauso wichtig ist wie der gemeinsame Sex.» Die Orgasmusfähigkeit bleibt übrigens bei beiden Geschlechtern erhalten.

Das intensive körperliche Verlangen nimmt tendenziell zwar ab, nicht aber der Wunsch nach Zärtlichkeit und Befriedigung. Doch die Vorstellung, zu alt für Sex zu sein, verhindert diesen womöglich. Dabei bestätigt eine breit zitierte Studie der Universität Michigan/USA, dass ein erfülltes Sexualleben die Lebensgeister wach hält und die Gesundheit fördert. Besonders bemerkenswert: Häufiger und befriedigender Sex ist gesund für ältere Frauen, weil damit das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen gesenkt werden kann. Genau andersherum ist es bei Männern. Mehr Sex, grösseres Herzinfarktrisiko. Ab dem Alter von rund 57 Jahren soll es für das Herz-Kreislauf-System der Männer geradezu gefährlich werden. Bei jenen, die mindestens einmal pro Woche Geschlechtsverkehr hatten, stieg das Risiko eines Herzinfarktes in einem Zeitraum von fünf Jahren etwa doppelt so hoch an wie bei den sexuell enthaltsamen Senioren.

Darüber reden

Eine typische Situation bei Paaren, die schon lange zusammen sind: Beide fürchten, nicht mehr attraktiv genug für den andern zu sein. Anstatt miteinander zu sprechen, zieht man sich zurück. Dabei könnte der Austausch über Unsicherheit und Gefühle die Brücke in eine neue Sexualität bauen. «Ich bin immer wieder irritiert darüber, wie schwer es Menschen in unserer Gesellschaft fällt, unverkrampft über Sex zu reden», sagt Martin Bachmann, der in Luzern eine Sexologie-Praxis führt. Reden, Abmachen, Ausprobieren heisst auch die Devise von Klaus Heer. In Barbara Lukeschs (vergriffenem) Buch Klaus Heer, was ist guter Sex? erläutert der bekannte Berner Paartherapeut: «Zu zweit Tennis spielen, braucht Training. Genau das bräuchte auch unsere Paarsexualität.» Das heisst: «Je länger ein Paar zusammen ist, umso dringender wird es, sich für eine sexuelle Begegnung zu verabreden. Man vereinbart, dass man sich dann und dann dafür Zeit nimmt – mitsamt einem Eintrag in die beiden Agenden. Was nicht in der Agenda steht, ist erfahrungsgemäss nicht wichtig.» Ähnlich sieht es Caroline Fux, ehemalige Kolumnistin in Sex- und Lebensfragen beim «Blick» und heute selbstständige Beraterin: «Wenn ich den Menschen in der Schweiz etwas wünschen würde, dann ein bisschen mehr Bewusstsein für den Körper und die Lust daran. Wir sind manchmal etwas verkopft.» (Mehr im Interview mit Caroline Fux im zweiten Teil.)

Und was, wenn es als Single wie auch in einer Paarbeziehung prima läuft ohne sexuelle Lust? «Abstinenz wird völlig zu Unrecht stigmatisiert», sagt Anica Plassmann, Sexualtherapeutin und Autorin des Buchs Sexfrei. Weil es okay ist, keine Lust zu haben (Verlag Knaur). Lustlosigkeit sei viel stärker verbreitet, als die meisten meinten. Plassmann findet es jedoch wichtig herauszufinden, warum das Liebesleben eingeschlafen ist. «Vor allem wenn einer der beiden darunter leidet. Das hat nichts mit Rechtfertigung oder Entschuldigung zu tun, sondern damit, die eigenen Bedürfnisse und die des andern zu verstehen.» So könne man eine neue Art Liebesleben für sich entdecken oder ganz darauf verzichten. Sollen auch Paare, die trotz sexueller Abstinenz glücklich miteinander sind, über ihren Umgang mit Sexualität reden? Klaus Heer meint ja: «Solche Paare könnten sich darüber verständigen, was es für ihre Beziehung heisst, dass sie keinen Sex mehr haben. Sie hätten die Chance, sich bewusst zu machen, dass es zwischen ihnen andere Bindeglieder gibt, die zusammenhalten und welche das konkret sind.»

26. Oktober 2021 – eva.hoz@luzern60plus.ch

Dieser Text ist auch im Schweizer Magazin «active&live» erschienen.