Linguistin Helen Christen. Bild: Joseph Schmidiger

Sensitivity Reading

Von Helen Christen

Dante. Shakespeare. Luther. Goethe. Twain. Busch. May. Lindgren. Preussler. Sulzer. Den Genannten und vielen weiteren ist gemein, dass sie dem Vorwurf ausgesetzt sind, eine mitunter rassistische, sexistische, diskriminierende oder sonst wie verstörende Schreibe zu haben, die der Leserschaft nicht ohne Weiteres zugemutet werden kann. Abhilfe schaffen soll der Ersatz heikler Wörter durch leichter verdauliche Alternativen (bekanntes Beispiel: Pippi Langstrumpfs Vater ist kein «Negerkönig» mehr, sondern neuerdings ein «Südseekönig»). Oder aber die Schrift wird mit einer Warnung versehen, wie man sie auch bei der Deklaration von Lebensmitteln kennt, deren Verzehr nicht ohne Risiko ist («kann Spuren von Nüssen enthalten»).

Mittlerweile gibt es gar den Beruf des «Sensitivity Reading», der sich des systematischen Überprüfens von Texten annimmt. «Sensitivity Readers» geben dann entweder grünes Licht oder aber mahnen Bedenklichkeiten an. Der dafür zum Einsatz kommende sittlich-moralische Kompass ist danach geeicht, was momentan gerade als irgendwie «richtiges» Denken gilt.

In diese Umtriebigkeit um heikles Schriftgut fällt – kaum beachtet – ein Schreiben von Papst Franziskus. Ausgerechnet von ihm, der sich in seinen Verlautbarungen oftmals als Haarsträuber erster Güte erweist (Pflicht-Zölibat, Frauen-Priestertum etc.), geht uns gänzlich Unerwartetes zu. Im Papstbrief vom 17. Juli 2024 nämlich legt sich Franziskus mächtig für das Lesen (und vehement gegen die audiovisuellen Medien) ins Zeug. Als ehemaliger Lehrer an einem argentinischen Jesuitenkolleg mit der Vermittlung von Literatur vertraut, schreibt er «Über die Bedeutung der Literatur in der Bildung» und hat dabei vor allem die Ausbildung zukünftiger Priester im Blick. Wer jetzt aber denkt, Franziskus würde sich gewiss für eine Wiederbelebung des berüchtigten «Index Romanus» stark machen, liegt falsch. Rund sechstausend Schriften umfasste diese römische Liste verbotener Bücher zuletzt; im Laufe von knapp fünf Jahrhunderten hatten die Zensur-Kardinäle im Kampf gegen Protestantismus und sonstige Ketzerei da so einiges aussortiert.

Wer als Katholik/in dennoch wagte, sich in zensurierte Werke etwa von Galilei, Voltaire, Balzac, Heine oder Sartre zu vertiefen, versündigte sich schwer und riskierte ein hartes Strafgericht im Jenseits. Die Vergangenheitsform ist richtig: Papst Paul VI. schaffte den Index in den 1960er Jahren ab. Und Papst Franziskus schreibt nun 2024 gar Sätze wie «Der Leser ist [...] nicht der Empfänger einer erbaulichen Botschaft, sondern eine Person, die aktiv aufgefordert wird, sich auf unsicheres Terrain zu begeben, wo die Grenzen zwischen Heil und Verderben nicht a priori festgelegt und getrennt sind.» Und – man staune – er zitiert unter anderen Marcel Proust und Paul Celan, notabene Worte eines homosexuellen und eines jüdischen Menschen.

Nimmt sich da nicht vergleichsweise unbedarft aus, wer heute eine Treibjagd auf einzelne I-, N-, W-, Z- oder Was-auch-immer-für-Wörter ansetzt, sodann ein Werk als unannehmbar klassifiziert und notfalls mit dem Stempel «return to sender» versieht? Ein Manöver, das übrigens zeit- und geldsparend von künstlicher Intelligenz übernommen werden könnte, handelt es sich doch bloss um einen simplen Reflex auf einen oberflächlichen Sprachköder. Kontexte berücksichtigen, sich mit Worten, Wörtern und Weltsichten heutiger und vergangener Zeiten – kritisch, wach und sensibel – auseinandersetzen: weit gefehlt!

Was ist mir als Leserin zumutbar? In den Ferien bei einer Grosstante hatte ich freien Zugriff auf das Büchergestell ihrer ausgeflogenen Töchter mit zig Exemplaren aus den Tastaturen von Berte Bratt (zum Beispiel «Moni träumt vom grossen Glück»; Achtung: Schund!) und Jerry Cotton (zum Beispiel «Mordnacht in Manhattan»; Achtung: Schund!). Während mich Berte Bratt auf ein unmittelbar bevorstehendes Prinzessinnen-Leben an der Seite eines Piloten oder sonstigen Traummannes vorbereitete, wurde ich mit Jerry Cotton bereits als Elfjährige mit schauerlichen Verbrechen in einem anrüchigen New York konfrontiert. Eigentlich beides aus sehr unterschiedlichen Gründen unbekömmlich für ein junges Mädchen (und durchaus eine Altersempfehlung rechtfertigend: Jerry Cotton ab 16 Jahren, Berte Bratt ab lebenserfahrungsgesättigten 50 Jahren...).

Im Laufe meines Lebens habe ich viel Schmerzliches, Bestürzendes und Unbegreifliches gelesen, nicht zu meinem Schaden. Und ich habe gelernt, mich zu schützen. Die Lektüre von Jonathan Littells «Die Wohlgesinnten» habe ich nach den ersten hundert Seiten erschüttert abgebrochen. Schlimmstenfalls darf man zu «unsicheres Terrain» auch aus eigenem Antrieb einfach verlassen.

17. November 2024 – helen.christen@luzern60plus.ch


Zur Person
Helen Christen, geboren 1956, ist in St. Erhard aufgewachsen und wohnt seit vielen Jahren in Luzern. Bis zu ihrer Emeritierung war sie Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü. Das Interesse an der deutschen Sprache in all ihren Facetten und die Lust an der Vermittlung linguistischen Wissens waren nicht nur die Triebfedern in ihrem Berufsleben, sondern prägen auch den neuen Lebensabschnitt.