Beat Bühlmann: «Ich bin froh, wenn unsere Kinder heikle Themen aufgreifen.»
«Es bedeutet viel, wenn die Kinder den alten Eltern mit Empathie begegnen»
Der Gerontologe und Journalist Beat Bühlmann (70) ist Mitglied des Forums Luzern60plus und Beirat beim Institut Alter der Fachhochschule Bern. Im Interview erläutert er Schwierigkeiten und Chancen in der Beziehungspflege zwischen den Generationen. Teil 2 der Serie «Wenn die eigenen Eltern älter werden».Von Eva Holz (Interview) und Joseph Schmidiger (Bild)
Wie weit darf, muss ich mich einmischen, wenn die betagten Eltern im Alltag überfordert sind?
Beat Bühlmann: Erwachsene Kinder sollen sich um ihre betagten Eltern sorgen – und müssen schwierige Themen ansprechen. Der Führerschein des Vaters, würde er ihn nicht besser abgeben? Das Einfamilienhaus mit grossem Garten, würde die verwitwete Mutter nicht besser in eine kleinere Wohnung wechseln? Und wäre es an der Zeit, den Heimeintritt ernsthaft zu prüfen? Ich selber wünsche mir, dass unsere erwachsenen Kinder heikle Themen rechtzeitig aufgreifen, ohne uns zu bevormunden. Jedenfalls zähle ich darauf, dass sie uns trotz Hinfälligkeit im hohen Alter mit dem gleichen Respekt begegnen, den wir ihnen als Kinder entgegengebracht haben.
Wir bleiben ein Leben lang das Kind unserer Eltern, nur kehrt sich bei fortschreitendem Alter das Abhängigkeitsverhältnis. Wie damit umgehen?
Es stimmt, die Rollen zwischen den Generationen können sich grundlegend wandeln und die Machtverhältnisse sich verschieben. Mit hilflosen, auch uneinsichtigen betagten Eltern umzugehen und ihre Abhängigkeit – oder gar Unmündigkeit – zu ertragen, kann verstörend sein. Allenfalls verändert sich auch unser Selbstbild bezüglich des eigenen Älterwerdens. Aus gerontologischer Sicht können Gelassenheit, Geduld und Grosszügigkeit helfen, solche Grenzsituationen zu akzeptieren.
Die Philosophin Barbara Bleisch erläutert in ihrem Buch «Warum wir unseren Eltern nichts schulden», dass wir als Kinder keine Pflichten übernehmen müssen, es also keine grundsätzliche Schuldigkeit gibt. Ist das so?
Kinder stehen nicht in der Pflicht der Eltern. Man bringt Kinder ja nicht auf die Welt, um ihnen später eine Rechnung mit Soll und Haben aufzumachen. Dennoch freut es mich, wenn unsere erwachsenen Kinder sich sorgen und nachfragen, wie es uns denn geht. Es bedeutet viel, wenn Töchter und Söhne den alten Eltern mit Empathie und Zugewandtheit begegnen. Und sich um eine versöhnliche Haltung bemühen, wenn sie schwierig und anspruchsvoll werden. Doch die Zuwendung der Kinder gegenüber den Eltern lässt sich gewiss nicht erzwingen. Zumal die Begleitung und Betreuung der betagten Eltern in unserem eng getakteten Alltag oft kaum machbar sind.
Wie weit können Töchter und Söhne denn in die Pflicht genommen werden?
Eigentlich gar nicht. Schon heute ist unbestritten, dass die Angehörigen mit der Pflege und Betreuung der Eltern zunehmend überfordert sind. Töchter und Söhne sind oft berufstätig, wohnen weit entfernt und sind mit der eigenen Familie mehr als genug beschäftigt. Schon heute sind 620'000 Personen im AHV-Alter auf Betreuung angewiesen – diese Bürde können wir nicht einfach deren Kinder auferlegen. Dazu kommt, dass immer mehr betagte Frauen (und auch Männer) ohne eigene Kinder alt werden und sich nicht immer auf ein soziales Netzwerk stützen können. Es braucht deshalb mehr staatliche Unterstützung, um für alle eine gute Betreuung im Alter zu gewährleisten. Andernfalls ist zu befürchten, so die Sozialwissenschaftler Nora Meuli und Carlo Knöpfel*, «dass mehr und mehr fragile Menschen mit geringem finanziellem Spielraum und einem wenig tragfähigen sozialen Netzwerk in die Vereinsamung und Verwahrlosung getrieben werden». Das kann der nachfolgenden Generation nicht gleichgültig sein, auch sie wird im Alter Unterstützung benötigen – mit oder ohne eigene Kinder.
Soll man mit den Eltern über das Testament sprechen oder ist das ein Tabu?
Warum nicht? Noch besser ist es, wenn die Eltern von sich aus mit den Kindern über das Testament reden. Und so ihre Entscheide auch begründen und allfällige Streitereien unter den Erbberechtigten beilegen können.
*Nora Meuli und Carlo Knöpfel: Ungleichheit im Alter. Eine Analyse der finanziellen Spielräume älterer Menschen in der Schweiz. 220 Seiten, 43 Franken. Seismo Verlag Zürich, 2021.
Teil 1: Rollentausch: Wenn die eigenen Eltern Begleitung brauchen
Teil 3: Alt und Jung im gleichen Haus: Ein Geben und Nehmen
13. Juli 2022 – eva.holz@luzern60plus.ch
Diese Artikelreihe ist zuerst im Magazin «active&live» erschienen.