Yvonne Volken. Bild: Joeph Schmidiger

Rollibock ist zurück

Von Yvonne Volken

Während in Einsiedeln «Das grosse Welttheater» gespielt wird, hat auf der Fiescher Freilichtbühne der Rollibock seinen grossen Auftritt – eine Sagenfigur, die früher im ganzen Aletschgebiet Angst und Schrecken verbreitete. Wehe denen, die mutwillig in seinem Reich, dem Aletschgletscher, frevelten, aus Gier und Hochmut jagten oder Mineralien zu Tale trugen. Rollibocks Rache war fürchterlich. Er brachte den Märjelensee zum Überlaufen. Die eisigen Fluten stürzten ins Tal und verheerten Dörfer und Äcker mit grossen Felsbrocken, Bäumen und Schlamm. Retten konnte sich nur, wer in einer Kirche oder in einem gesegneten Haus Zuflucht fand.

Da ich unter anderem im Oberwallis aufgewachsen bin und aus Fiesch stamme, kannte ich die Sage schon als Kind. Aber der Rollibock, der riesige Geissbock mit den bösen gelben Augen, den grossen Hörnern und den klirrenden Eiszapfen im zotteligen Fell erschien mir weit weniger gefährlich als der Lückiboz oder der Gifiboz, die einem jederzeit in stockdunkler Nacht oder vielleicht sogar im Keller begegnen konnten. Der Rollibock dagegen schien mit dem kontinuierlichen Rückzug des Aletschgletschers und dem Verschwinden des riesigen Märjelensees sein Habitat und seine rächende Magie schon längst verloren zu haben.

Klar, die Welt des Rollibocks gibt es heute nicht mehr. In seiner aktionsreichsten Rachephase, im 19. Jahrhundert, war der Märjelensee als Gletscherrandsee des Aletschgletschers bis zu 1,6 Kilometer lang und 500 Meter breit und es kam regelmässig zu grossen Überschwemmungen, vor allem im Gebiet von Naters und auch im Fieschertal. Heute kann das überlaufende Gletscherseewasser in zwei Stauseen abfliessen. Der Rollibock hat schon lange keinen Zugriff mehr auf seine Katastrophenkeule. Der Schutzgeist des Aletsch hat ausgedient, denn der heutige Mensch ist durch Naturkatastrophen nicht mehr zu beeindrucken.

Der Mensch hat alles im Griff. Der Permafrost schwindet und die Bergstation auf dem Eggishorn ist instabil? Kein Problem: Mit neuer Technik wird demnächst eine moderne Station gebaut, die flexibel und «intelligent» auf den Baugrund reagiert, der sich ständig verändert, neue Risse und Spalten bildet. Die Gletscher schmelzen? Kein Problem, im Gegenteil, das Gletscherwasser kann zum Beispiel im Oberaletsch prima in einem neuen Stausee gefasst und zur Winterstromproduktion genutzt werden.

Seit einiger Zeit aber ist der Rollibock wieder präsent. Werbemenschen haben ihn zum Schutzpatron der Aletsch-Arena AG verzwergt, einer der grössten Tourismusunternehmungen im Wallis. Die weitläufigen Skigebiete der Aletsch-Arena liegen alle im Unesco-Weltnaturerbe Aletsch-Jungfrau – im früheren Herrschaftsgebiet der Sagengestalt also. Da passt so ein «RolliBock» als Maskottchen bestens in die Vermarktungsstrategie. Es gibt einen «RolliBock»-Club, «RolliBock»-Bars. Es gibt allerlei «RolliBock»-Events, wie zum Beispiel die «RolliBock»-Trophy, ein Gleitschirmwettbewerb mit «grossem Fun-Faktor für die ganze Familie».

Und da ist das Freilichttheater, das die Rollibock-Geschichte neu aufrollt. «RolliBock – Zorn der Natur?». Die Neuinszenierung des Walliser Regisseurs und Filmemachers Willy-Franz Kurth basiert auf einem Theaterstück des Schriftstellers Hubert Theler. Der «erhobene Zeigfinger» bleibe dem Zuschauer erspart, heisst es auf der Website der Theaterleute: «Nicht aber die Frage: Haben wir als Spezies den Tiefpunkt schon erreicht, vielleicht geht es nun wieder aufwärts, einerseits. Andererseits ist der Lebenszyklus eines einzelnen Menschen so unglaublich kurz. Können wir noch etwas Vernünftiges tun?»

Wenige Tage vor der Premiere des Stücks am 19. Juli zeigte es der Rollibock aber nochmals allen. Er liess den Regen prasseln, tagelang, schickte Wassermassen, Felsbrocken, Baumstämme ins Tal hinunter, wo die Unwetter viele Gebiete des Goms und seiner Seitentäler überschwemmten, samt Strassen, Eisenbahnlinien und Wanderwegen. «RolliBock: Ich bin zurück» sprayte jemand an die Holzwand eines Ferienhauses. Hoffentlich nicht, möchte ich dem doch noch hinzufügen.

30. Juli 2024 – yvonne.volken@luzern60plus.ch


Zur Person
Yvonne Volken, geboren 1956, war u. a. als Buchhändlerin, Journalistin, Kulturveranstalterin und Klassenassistentin tätig. Sie kam so mit ganz unterschiedlichen Lebenswelten in Kontakt. Seit ihrer Pensionierung sammelt sie Erfahrungen als betreuende Angehörige – und neuerdings als Grossmutter.