Angeleitet von der Musik-Studentin Irena (hinten) lieben es die Kinder, bei Prostir verschiedene Instrumente auszuprobieren.

Prostir: Raum für Austausch und Aktivitäten

Im Begegnungszentrum Prostir können sich geflüchtete Ukrainerinnen unkompliziert austauschen und Kraft tanken. Erwachsene und Kinder finden ein vielseitiges, von Landsleuten geleitetes Angebot: von Deutsch- und Fitnesskursen bis hin zu Singen, Tanzen, Ballett, MalenVon Monika Fischer (Text und Bilder)

Besuch im Kultur- und Begegnungszentrum Prostir an der Staffelnhofstrasse 7 in Reussbühl/Luzern: Im Aufenthaltsraum sind ein paar Frauen mit besorgten Gesichtern in ein Gespräch vertieft. Kleine und grosse Kinder stürmen zur Musikstunde die Treppe hinauf. Am niedrigen Tisch zählt Yuliia Buialska Münzen und schiebt sie einer jungen Frau zu. Die administrative und organisatorische Leiterin von Prostir erklärt auf Englisch: «Wir bezahlen unseren Besucherinnen das Ticket für die Busfahrt, damit sie einander begegnen und an unseren Aktivitäten teilnehmen können. Der Kanton kommt wohl für die Wohnungsmiete und Versicherungen auf. Doch reichen die zehn Franken pro Tag und Person für den Lebensunterhalt der geflüchteten Menschen nirgends hin.»

Angebote für Kinder und Erwachsene
Am Stundenplan an der Wand zeigt sie die angebotenen Aktivitäten. Diese finden in den schulfreien Zeiten Mittwochnachmittag, Samstag und Sonntag statt. Ausser am Freitag, dann werden die Interessierten in drei Gruppen in Deutsch unterrichtet. Begeistert führt Yuliia die Besucherin durchs ehemalige Schwesternhaus, wo in der Kunst-Box auch Kunst- und Musikstudentinnen wohnen. «Dank festen Strukturen kommen wir gut aneinander vorbei», sagt sie auf der Terrasse mit Blick zum Gipfel des Pilatus über dem Wald. Im Kulturraum unter dem Dach finden die verschiedensten Aktivitäten für Kinder und Erwachsene statt. Alles ist da: Farben, Werkzeuge zum Basteln, Musikinstrumente, Spielsachen. Eben hat eine Gruppe von Kindern den Musikunterricht abgeschlossen. «Wir singen, üben den Rhythmus, lernen verschiedene Musikinstrumente kennen. Die älteren Kinder helfen den kleinen, das klappt bestens», freut sich die Musikstudentin Irena, die jeden Samstag anderthalb Stunden mit den Kindern arbeitet.

Was sie schon in ihrer Heimat gemacht haben
Mit Freude zeigt Yuliia die Bibliothek mit ukrainischen, russischen und deutschen Büchern für Kinder und Erwachsene. Diese können die Besucherinnen zu festen Öffnungszeiten unentgeltlich ausleihen. Sie stellt uns die Psychologin vor, die zweimal pro Woche als Kunst- und Maltherapeutin mit Kindern zwischen vier und sieben Jahren arbeitet. «Es ist sehr wichtig für die Menschen, die Schreckliches erlebt haben», betont sie. Eine weitere Psychologin arbeitet mit Erwachsenen, neu soll auch ein Angebot für Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren aufgebaut werden. In der ehemaligen Kapelle strecken, beugen, bewegen sich Frauen im Kreis in der Fitnessstunde. «Das ist für uns sehr wichtig. Wir Ukrainerinnen möchten schlank und schön sein. Ich weiss nicht, woher das kommt, es liegt wohl in unserer Natur», sagt Yuliia lachend. Überhaupt sei Sport sehr wichtig, auch für die Kinder. So hat Prostir auch eine Fussballmannschaft mit 15 Buben und Jugendlichen zwischen 12 und 22 Jahren. Im Kulturraum hat unterdessen die Ballettstunde für Kinder begonnen. «Unsere Gäste machen bei Prostir das, was sie schon in ihrer Heimat gemacht haben.» Dies zeigt auch der Blick in die Küche, wo vier Frauen damit beschäftigt sind, Borschtsch und Backwaren für den Stand an der Määs zuzubereiten. 

Die Fähigkeiten einsetzen
Yuliia Buialska, 31, schätzt es, dass bei Prostir ausser den Lehrpersonen für die Deutschkurse ukrainische Fachpersonen oder Studentinnen eine sinnvolle Aufgabe gefunden haben: «Sie können ihren Beruf weiterhin ausüben und zeigen, wer sie sind und was sie können. Wir wollten unser Land nicht verlassen, sondern wurden durch den Krieg dazu gezwungen. Jetzt sind wir auf die Solidarität und finanzielle Unterstützung der Schweiz angewiesen. Dafür sind wir sehr dankbar. Und doch sind wir nicht einfach arme Flüchtlinge. Wir sind Menschen mit vielen Fähigkeiten. Wir sind stark und können etwas leisten. Prostir bietet uns dazu eine Möglichkeit.» Yuliia Buialska war Lehrerin für Englisch und Geschichte in Mariupol und hatte ein gutes, normales Leben mit einer Zukunft. Am 17. März 2022 musste sie ihr Land mit der achtjährigen Tochter Mariia verlassen. Seit April ist sie bei Prostir für die Administration und Organisation zuständig und stellte als erstes Projekt ein Sommerprogramm für die Ferien auf die Beine. Sie verweist auch auf die verschiedenen Events, die im Haus stattfinden: Konzerte, Tage der offenen Türen, Informationsveranstaltungen und meint: «Es ist das Wichtigste, beschäftigt zu sein. Ich mache die Arbeit hier sehr gerne, die Leute vertrauen mir, und ich schätze es, andern zu helfen. Im Moment lebe ich Tag für Tag und verschwende keine Gedanken an die Zukunft. Vieles ist zu ungewiss.»

«Ich schätze es, bei Prostir eine sinnvolle Arbeit zu haben», sagt die organisatorische Leiterin Yuliia Buialska, die mit ihrer Tochter Mariia aus Mariupol geflohen ist.

Friedliches Zusammenleben beim gemeinsamen Musizieren
Immer wieder fällt im Gespräch mit Yuliia der Satz: «Urban kümmert sich um alles Weitere.» Beim Gespräch mit Urban Frye, 60, in der Music-Box an der Reuss, holt der Luzerner Musikwissenschafter, Kulturmanager und Politiker weit aus. «Vor zehn Jahren kündigte ich alle meine Verpflichtungen und wollte nur noch machen, was für mich richtig stimmt.» Infolge einer Bauzonenänderung hatte ein vor 20 Jahren gekauftes Grundstück an der Reuss plötzlich viel mehr wert. Dadurch bekam er Kredite von den Banken für Projekte, die er sonst nicht hätte realisieren können. Mit einer Gruppe von Studierenden als Bauherren entstand die Music-Box mit schalldichten Räumen zum Üben. Im Frühling 2019 konnte das nach den Massstäben der Nachhaltigkeit erbaute Holzhaus mit 27 Studios für Musikstudierende eröffnet werden.

Ausgehend von der Idee eines Musikerhotels mietete er anfangs 2020 auf der Rigi das Hotel «Bergsonne». Als die Musikstudenten beim Lockdown zwei Monate später in der Music-Box total isoliert waren, realisierte er aufgrund einer Gesetzeslücke das Klanghotel. Die Musikerinnen und Musiker arbeiteten im Hotel mit und gaben für die Hotelgäste jeden Abend ein musikalisches Intermezzo. «Alle Kontinente, Religionen, Hautfarben waren vertreten, es gab nie die geringste Konfliktsituation. Politische Themen wurden nicht ausgeblendet. Das Zusammenleben funktionierte durch eine Art von Toleranz. Die jungen Menschen hatten nur ein Ziel: gemeinsam Musik zu machen.» Nach zwei Jahren musste die «Bergsonne» auf der Rigi aufgegeben werden, unter dem Begriff Klanghotel werden jedoch weiterhin Konzerte organisiert.

Arbeit statt Almosen
Nach dem brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022 stellte Urban Frye sofort eine Gruppe für ein gemeinsames Solidaritätskonzert für die Ukraine am 6. März zusammen. Gleichentags erhielt er einen Anruf von der Hochschule Design und Kunst, eine Klasse mit jungen Studentinnen sei aus Lemberg unterwegs in die Schweiz. Er suchte für sie eine Unterkunft und konnte dafür von der Baugenossenschaft Reusbbühl das ehemalige Schwesternhaus mieten. Darin entstand die Kunst-Box.

Von den aktuell 90 Studierenden, die inzwischen Studios oder Zimmer in vier Häusern bewohnen, stammen 40 aus der Ukraine. Um sie zu beschäftigen, entstand die Idee von Prostir (einfach übersetzt Raum), für das der Verein Freunde der Music-Box die juristische Trägerschaft übernommen hat. Urban Frye erklärt: «Wir wollten die Leute einbeziehen, damit sie eine Leistung erbringen können. Wir geben keine Almosen, dafür Arbeits- und Aufführungsmöglichkeiten. Das steigert das Selbstwertgefühl der Betroffenen, obwohl der Aufwand sehr gross ist.» So freut er sich über die vielseitigen Angebote von Prostir, von denen bisher zu unterschiedlichen Zeiten rund 300 Personen profitieren konnten.

Ein Wagnis, das sich gelohnt hat
Grundsätzlich haben bei Urban Frye alle Platz. Er erzählt von einem ukrainischen Dirigenten, der bei ihm eine Unterkunft suchte. «Du kannst kommen unter der Bedingung, dass du einen Chor gründest und wöchentlich zweimal mit ihm übst», machte Frye dem jungen Mann zur Auflage. Dieser ergriff die Gelegenheit und probt seither regelmässig mit ukrainischen Sängerinnen und Sängern in der ehemaligen Kapelle in Reussbühl.

Die Projekte der Music- und der Kunst-Box entwickeln sich ständig weiter, es gibt eine Warteliste von 40 Personen. «Ich gehe volles Risiko ein, stehe gerade, wenn etwas fehlt und bin dankbar für jede Unterstützung», erzählt Urban Frye und beschreibt, was ihn antreibt: «In der ‹Bergsonne›, haben zwölf Musiker den eigens für meinen Sohn Jakob komponierten Globi-Marsch uraufgeführt. Es war ein einmaliges Erlebnis, das man nicht kaufen kann. Wenn ich sehe, was meine Projekte bewirken, ist das mein Lohn, das ist Glück und Freude.»

«Statt Almosen geben wir den Menschen aus der Ukraine Arbeits- und Aufführungsmöglichkeiten», sagt Urban Frye in der Music-Box.

Weitere Infos: www.prostir.ch, www.music-box.net

21.Oktober 2022 – monika.fischer@luzern60plus.ch