Henny Graf-de Ruiter engagiert sich als Freiwillige in der Ukraine.
Pionierin im Einsatz für Menschen mit Beeinträchtigungen
In Willisau hat Henny Graf-de Ruiter (72) die Heilpädagogische Sonderschule, in Ruswil ein Pilotprojekt für die Integrative Förderung aufgebaut. Seit 15 Jahren engagiert sich die Luzernerin freiwillig bei Pilotprojekten in der Ukraine für Menschen mit Behinderungen.
Von Monika Fischer (Text und Bilder)
November 2021: An der Universität der westukrainischen Stadt Uschgorod heisst Henny Graf Studentinnen, Dozentinnen und Gäste zum Seminar «Sonderpädagogik» herzlich willkommen. Die jungen Frauen sitzen im Mantel an den Holzpulten in dem mit «Auditorium» bezeichneten Raum. Im Beisein des Dekans und der Dolmetscherin stellt die Fachfrau das Wochenprogramm vor. Dieses ist Teil des neuen sonderpädagogischen Studiengangs für praxisorientierte Generalistinnen für die Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigungen (für die Ausbildung haben sich nur Frauen angemeldet).
Larissa steht Henny Graf-de Ruiter als Übersetzerin bei ihrem Referat zur Seite.
Fachwissen vor Ort
Dass diese in der Ukraine fehlen, hat Henny Graf in den letzten 15 Jahren bei der Realisierung des Wohnheims Parasolka erfahren. Dort wohnen und arbeiten seit zwölf Jahren 25 junge Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen aus dem Kinderheim Vilshany, wo sie im postsowjetischen System nur geringe Förderung erhalten hatten. Im Vorstand des Vereins Parasolka, der das Projekt in Zusammenarbeit mit der einheimischen Partnerorganisation CAMZ und den Behörden aufgebaut hat, ist sie für die Sonderpädagogik zuständig. In zahlreichen Workshops hat sie die Mitarbeiterinnen im praktischen und theoretischen Fachwissen aus- und weitergebildet, Konzepte erarbeitet, an Konferenzen Vorträge gehalten. «Nach zehn Jahren sahen wir, dass unsere Arbeit nur dann nachhaltig ist, wenn das Fachwissen vor Ort bezogen werden kann. Deshalb haben wir zusammen mit der Universität und unseren Partnerinnen das ambitiöse Ausbildungsprojekt mit der Gründung einer neuen Fakultät entwickelt.»
Kindheit durch Kirche und Arbeit geprägt
Pionierlust, Energie und Engagement sind in ihren Worten spürbar. Seit ihrer Kindheit weiss sie, dass ein Ziel nur mit Innovation und gemeinsamer Arbeit erreicht werden kann. Mit sechs Geschwistern wuchs Henny de Ruiter auf einem kleinen Bauernhof in einem holländischen Polder in der Nähe von Amsterdam auf. Das Familienleben war durch Kirche und Arbeit geprägt. Der Vater experimentierte mit verschiedenen Grassorten, betrieb den herkömmlichen Ackerbau mit Weizen, Kartoffeln, Zuckerrüben usw. und züchtete Tulpenzwiebeln. Die Kinder halfen überall mit. «Wir schnitten die Blüten ab, sammelten die Zwiebeln ein und säuberten sie. Durch den Verkauf von Tulpenkränzen und -sträussen an Touristen verdienten wir unser Sackgeld», erzählt Henny, die in der Grossfamilie früh selbständig wurde.
«Im calvinistisch geprägten Elternhaus haben wir auch viel gesungen. Am strikt als Ruhetag gehaltenen Sonntag stand die ganze Familie singend ums Harmonium.» Sie bekam auf ihren Wunsch Gesangsunterricht und legte jede Woche mit einem ihrer Brüder 15 Kilometer mit dem Velo für die Chorproben zurück. Nach der Matura und dem Besuch der pädagogischen Akademie merkte sie beim Unterrichten rasch: «Das ist nicht mein Beruf.» Motiviert durch einen schwierigen Schüler absolvierte sie berufsbegleitend das Studium der Heilpädagogik mit Schwerpunkt Lern- und Verhaltensauffälligkeiten.
Selbstbestimmt in einer Zeit, in der viel möglich war
Früh zog sie weg von der im Winter grauen Polderlandschaft und baute sich in Nijmegen, wo die Landschaft mit viel Wald grüner war, ein selbstbestimmtes Leben auf. Sie schildert die interessante, offene Zeit in den 1970er-Jahren, in der viel möglich war: «Ich sang im katholischen Studentenchor und probierte vieles aus, zum Beispiel experimentelles Theater, setzte mir aber auch Grenzen.» Die Berufsarbeit mit Kindern mit leichteren Einschränkungen gefiel ihr. «Es war mir wichtig, Struktur in den Unterricht zu bringen, mit Kindern Lernziele zu erreichen und ihnen Selbstvertrauen zu vermitteln. Da es genug Geld für die Entwicklung gab, konnten wir Ideen umsetzen, neue Therapien ausprobieren und Projekte realisieren.»
Pionierarbeit in der Schweiz
Es fehlte ihr nichts, bis sie 1980 über einen Kollegen den katholischen Theologiestudenten Ivo Graf aus Luzern kennenlernte. Zwei Jahre nahm mal der eine, mal die andere die zehn Stunden Fahrt auf sich, bis sie sich für das gemeinsame Leben in der Schweiz entschieden. «Es war für mich einfacher, weil ich in der Schule Deutsch als erste Fremdsprache gelernt hatte.»
Dank Freiwilligenarbeit im heilpädagogischen Entlastungsdienst lebte sie sich schnell ein. In Luzern fanden sie keine preisgünstige Familienwohnung. Deshalb zogen sie nach Schwarzenberg. Nach der Geburt des Sohnes und der ersten der beiden Töchter übernahm Henny Graf in den 1980er-Jahren ein kleines Pensum an der Stelle für Früherziehung in Willisau, das rasch grösser wurde. Anfang der 1990er-Jahre fand sie für mehrere Kinder keinen Platz an einer Sonderschule. Deshalb nahm sie den Auftrag, in Willisau eine Heilpädagogische Sonderschule (HPS) aufzubauen, gerne an. 1993 startete sie mit einem Provisorium in einem Chalet. Jahr für Jahr musste dieses um weitere Provisorien erweitert werden. Nach der intensiven Aufbauphase fanden 1997 alle 34 Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrpersonen an einem geeigneten Standort Platz.
Schon damals hatte Henny Graf die Bedeutung des integrativen Gedankens, der zuerst an der Sonderschule entwickelt werden müsse, in einem Interview betont: «So werden die Chancen für die schwächsten Schülerinnen und Schüler gewährleistet. Zudem werden durch gemischt zusammengesetzte Gruppen Selbständigkeit, Verantwortungsgefühl und Selbstvertrauen gefördert.» Im Hinblick auf die «Schule mit Profil» absolvierte sie die Ausbildung zur Schulleiterin und freute sich auf ruhigere Jahre.
Ein schwerer Rückschlag
Es kam anders. Offen erzählt sie von der dunkelsten Zeit ihres Lebens. Ein Jahr nach der Eröffnung der HPS wurde ein anderer Schulleiter gewählt. Bald darauf wurde ihr Lehrauftrag nicht mehr verlängert. Als sie sich wehrte, wurde sie ohne Angabe von Gründen von einem Tag auf den andern freigestellt. Zum Schock kamen Existenzängste, hatte doch ihr Mann in den letzten Jahren mehrheitlich als Hausmann gearbeitet, sie war für die fünfköpfige Familie aufgekommen. Bis auf «kulturelle Unterschiede» hat sie die Gründe für die Entlassung nie erfahren und meint: «Ich passte wohl als eigenständige Frau und Fremde nicht in das Leben auf dem Land.»
Nach langen Wanderungen und einer Therapie fing sie sich auf. Ausgleich boten ihr das Singen, zuerst im Projektchor in Willisau, bald darauf und bis heute in der Matthäus-Kantorei in Luzern. Körperlichen Ausgleich geben ihr das Schwimmen, der «Nationalsport der Holländer», und das Velofahren: «Dabei kann ich loslassen und entspannen. Für mich ist es Freiheit, auf dem Velo zu pedalen und vorwärts zu kommen.»
Zurück im Berufsleben baute sie die Integrative Förderung an der Schule Ruswil auf. Vom Land zurück in die Stadt gezogen, arbeitete sie zehn Jahre als Leiterin für den Kinderbereich in der Stiftung für Taubblinde an der «Tanne» in Langnau am Albis. «Der Umgang mit Sinnesbehinderungen war für mich etwas ganz Neues, hochinteressant und komplex. Ich habe dabei sehr viel gelernt.» In diese Zeit fiel die Anfrage zur Mitarbeit im Verein Parasolka. Spontan sagte sie zu. «Ich freute mich, wieder bei einem Pionierprojekt mitzumachen und mein Fachwissen weiterzugeben.» Seit sie sich mit 63 Jahren frühzeitig pensionieren liess, hatte sie dafür neben dem Teilpensum für integrative Förderung und Sonderschulung im St.-Karli-Schulhaus mehr Zeit.
Im Klassenzimmer der Universität in der westukrainischen Stadt Uschgorod.
Hoffnung in einem Land voller Unsicherheiten
Für ihre Projektarbeit in Transkarpatien/Ukraine nimmt sie jährlich mehrere Reisen auf sich. Oft sind diese verbunden mit langem Warten bei den Kontrollen an der Grenze und mit Fahrten über Strassen voller Schlaglöcher. Dazu kommt die Unsicherheit in einem Land im Kriegszustand und mit grossen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Es stört Henny Graf, wenn von der Ukraine nur negativ berichtet wird, hat sie doch in den letzten 15 Jahren bei einer engagierten Zivilgesellschaft und herzlichen Gastfreundschaft auch eine andere Seite kennengelernt. «Gemeinsam mit unseren Partnerinnen vor Ort hatten wir eine Vision, die wir mit viel Einsatz realisieren konnten. Das Wohnheim Parasolka ist inzwischen ein Modellprojekt fürs ganze Land. Dies ist befriedigend und beispielhaft für die Gesellschaft. Angesichts der enormen Herausforderungen, denen die Ukrainerinnen ausgesetzt sind, gibt dies den Menschen vor Ort auch Mut und Hoffnung.»
Die zweifache Grossmutter ist dankbar, im Alter gesund und leistungsfähig zu sein und ihr Fachwissen weitergeben zu können. «Die Erfolge sowie das Interesse und Mitmachen der Studentinnen im letzten Seminar motivieren mich, weiterhin dranzubleiben.»
23. Dezember 2021 – monika.fischer@luzern60plus.ch
Die Autorin war Mit-Initiantin des Projektes Parasolka und hat den gleichnamigen Verein bis im April 2017 geleitet.