Yvonne Volken. Bild: Joeph Schmidiger

Ohrwürmer und andere Sorgen

Von Yvonne Volken

Es war ein schöner und sehr warmer Sonntagnachmittag Mitte April. Ich war bei einer afghanischen Familie zum Nachtessen eingeladen, ging dem Seeufer entlang, wo die Menschen vergnügt grillierten, Ball spielten, an der Sonne lagen, im kalten Wasser herumsprangen. Eine Sonntagsschweiz wie aus dem Bilderbuch.

Plötzlich poppte ein Ohrwurm in meinem Musikgedächtnis, in meiner inneren Musikbox auf, ein Lied des Berner Troubadours Fritz Widmer: «Ballade vo dr Houptüebig vo der Füürwehr vo Oberglunggewil». Wie die Feuerwehrmänner nach der Hauptübung im «Löwen» noch mehrere Absacker tranken, mit ihren Helmen kegelten und es zu brennen begann. Bis die Männer wieder ernüchtert und ertüchtigt zur Stelle waren mit dem Feuerwehrschlauch, war der «Löwen» abgebrannt. Das Fazit des Troubadours Fritz Widmer: «I wett nid grad säge, dass d Wält verbrönnt, wäret däm mier no jutze, aber si chönnt, holladioo.»

Warum jetzt ausgerechnet dieser Ohrwurm? Hatte ich zu viele Nachrichten intus? Fünf Milliarden mehr für Rüstungsgüter für die Schweizer Armee, die Lage in der Ostukraine, Gazastreifen, Israel, Iran. Unfassbar dramatische Welt-News. Oder auch die Klimaseniorinnen und ihr «Sieg» vor dem Europäischen Gericht für Menschenrechte (EGMR), der nicht nur bejubelt wurde, sondern für den sie auch Häme einstecken mussten. Da war auch noch der Schweizer Richter im EGMR, der fast als Landesverräter gebrandmarkt wurde oder der frisch gewählte Basler Regierungsrat Mustafa Attici, der dem «Tagesanzeiger» berichtete: «So viel Hass habe ich noch nie erlebt.»

Hatten wir da noch ein Recht auf Leichtigkeit des Seins, auf unbeschwerte Sonntage? Ja, und nun fiel mir auch noch die israelische Journalistin ein, die uns im Westen als «abgeschottete Spassgesellschaft» bezeichnet (WOZ, Le monde diplomatique, April 2024). Dies im Zusammenhang mit einem neuen Tourismus-Angebot in Israel, nämlich mit Touren zu den Schauplätzen des Massakers vom 7. Oktober 2023, gefragt allerdings nicht nur bei Westlern, sondern auch bei Israelis aus dem inneren des Landes. Holladioo! Dilemmatische Gedanken, begleitet von einem berndeutschen Lied von 1971.

Der Abend bei der afghanischen Familie war dann schön und gemütlich. Das Essen war hervorragend. Die Kinder wirbelten herum. Wir Erwachsenen sprachen nicht über Politik. Aber eine traurige Note begleitete unsere Leichtigkeit eben auch: Die Gastgeberin erzählte, dass ihre Eltern jetzt allein in Kabul leben müssten, weil nun auch die älteste Tochter – eine Ärztin – zusammen mit ihrer 15-jährigen Tochter nach Deutschland geflohen ist. Fast alle Söhne und Töchter, alle bestens ausgebildet, sind emigriert, geflohen vor den Taliban.

Später, unterwegs nach Hause, nahm ich in der Dämmerung die vielen Wahlplakate wahr, die mir als Wählerin für die kommenden Stadtrats- und Stadtparlamentswahlen die Partei XY oder die Kandidatin Z anpreisen. Alle haben sie Lösungen parat, dachte ich irgendwie getröstet. Dann wird es wohl nicht so schlimm stehen um unsere schöne Sonntagsschweiz. Und es bildete sich ein neuer Ohrwurm, ein Rap aus Wahlslogans sozusagen, in dessen Rhythmus ich die letzten 1000 Meter bis zur Haustür munter voranschritt: «Politisieren statt polarisieren. Bock auf Zukunft. Wir machen Zukunft. Mut zur Lösung, Sorg ha zo Lozärn. Politisieren statt polarisieren. Bock auf Zukunft. Wir machen Zukunft. Mut zur Lösung. Sorg ha zo Lozärn…»

Tatsächlich werde ich tagtäglich von Ohrwürmern heimgesucht. Das sei zwar keine Krankheit, beruhigt mich ein Blick ins Internet. Aber Experten bezeichnen den Ohrwurm auch als «unerwünschten auditiven Gedächtnisinhalt, der einen unaufgefordert überfällt» oder auch als «unwished auditory memory». Dessen Spezialität ist es, dass er sich nicht kontrollieren lässt. Henusode. Und so nehme ich es gelassen hin, als mir tags darauf beim Wäscheaufhängen ein neuer Ohrwurm aufspielt: Es ist «Griechischer Wein» von Udo Jürgens. Holladioo!

26. April 2024 – yvonne.volken@luzern60plus.ch


Zur Person
Yvonne Volken, geboren 1956, war u.a. als Buchhändlerin, Journalistin, Kulturveranstalterin und Klassenassistentin tätig. Sie kam so mit ganz unterschiedlichen Lebenswelten in Kontakt. Seit ihrer Pensionierung sammelt sie Erfahrungen als betreuende Angehörige – und neuerdings als Grossmutter.