Auf sich allein gestellt. Wer keine Familienangehörigen hat, braucht mehr professionelle Betreuung.
Frauen trifft es im Alter gleich doppelt
Rund 100 000 Frauen und Männer können sich im Pensionsalter auf keine Familienangehörige stützen - Tendenz steigend. Wer kümmert sich um sie, wenn sie im fragilen Hilfe brauchen?
Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)
In der aktuellen Coronakrise sind vor allem ältere Personen auf die Unterstützung ihrer Familie angewiesen. Doch was passiert, wenn es keine Angehörigen gibt, die Betreuungsaufgaben übernehmen können? Im Auftrag des Migros-Kulturprozent (Kultur und Soziales) versuchen die Sozialexperten Carlo Knöpfel und Nora Meuli von der Fachhochschule Nordwestschweiz das Ausmass und die Folgen dieser Entwicklung einzuordnen.
Über acht Prozent ohne Familienangehörige
Wie viele Frauen und Männer im Pensionsalter leben in der Schweiz ohne Lebensgefährten und ohne Kinder? Gemäss der Studie „Alt werden ohne Familienangehörige“ sind die verlässlichsten Angaben aus den Zahlen des Bundesamtes für Statistik zu Familie und Generationen (2018) zu gewinnen. Danach beläuft sich der Anteil der Rentnerinnen und Rentner ohne engere Familienangehörige auf mindestens acht Prozent. Das sind rund 100 000 Personen. Allerdings dürfte diese Zahl schon heute deutlich höher sein, weil das Bundesamt – aus was für Gründen auch immer – eine Altersobergrenze setzt und nur Menschen befragt, die jünger sind als 80 Jahre.
Ob jemand alt wird ohne Familienangehörige, ergibt sich aus der Kombination von Kinder- und Partnerlosigkeit. Heute umfasst die Gruppe der 65- bis 80-Jährigen in der Schweiz eine Million Personen. 20 Prozent von ihnen haben zwar Kinder, aber keinen Partner oder keine Partnerin, 13 Prozent leben in einer Partnerschaft, haben aber keine Kinder. Insgesamt lebt jede fünfte ältere Person ohne Kinder. Diese Entwicklung wird sich gemäss Studie in den nächsten Jahrzehnten noch verstärken. Denn der vergleichsweise hohe Anteil kinderloser Frauen in der Alterskategorie der 45- bis 59-Jährigen wird dazu führen, dass „die Zahl der älteren Menschen ohne Familienangehörige in den kommenden Jahren steigen wird“, heisst es in der Studie. „Denn Kinderlosigkeit ist ein massgebender Faktor für eine spätere Lebenssituation ohne Familienangehörige.“
Der zweite massgebende Faktor, ob jemand im Alter auf Angehörige zählen kann, ist die Frage der Partnerschaft. Auffallend ist, dass der Anteil der Frauen ohne Partner oder Partnerin mit dem Alter sehr stark ansteigt. Frappant sei vor allem der grosse Unterschied zwischen den Geschlechtern, heisst es in der Studie. Während lediglich 20 Prozent der 75- bis 80-jährigen Männer nicht in einer Beziehung leben, sind es bei den Frauen mehr als doppelt so viele, nämlich 47 Prozent. Das hat auch damit zu tun, dass Männer im hohen Alter wesentlich häufiger als Frauen nochmals eine Partnerschaft eingehen (und ohnehin eine tiefere Lebenserwartung haben). Unter dem Strich bedeutet dies, dass zehn Prozent der älteren Frauen (75- bis 80-Jährige) ohne Familienangehörige leben. Bei den Männern sind es drei Prozent.
Höheres Armutsrisiko für Frauen
Insgesamt, so das Fazit von Knöpfel und Meuli, wird in naher Zukunft eine immer grössere Zahl von Menschen im Alter nicht auf die Unterstützung von Familienangehörigen zählen können. Denn immer mehr Menschen werden alt, ohne Kinder zu haben. Eine solche Perspektive „weckt Ängste vor Einsamkeit, Langeweile und Nutzlosigkeit“. Allerdings: Ohne Familienangehörige alt zu werden, ist nicht gleichbedeutend mit sozialer Isolation und mangelnder informeller Unterstützung, betont die Autoren. Wer nicht auf die eigene Familie zählen könne, erhalte oft Zuwendung aus dem sozialen Umfeld. Denn andere Verwandte, Freunde oder Nachbarn leisteten wichtige emotionale Unterstützung.
Dennoch: Auch wer im Alter auf stabile Freundschaften zählen kann, muss mit einem Manko an Betreuung rechnen. Denn diese Freundinnen dürften eher nicht im gleichen Haushalt wohnen, wie es eine Partnerin oder ein Partner häufig tun. Zudem verfügten die meist gleichaltrigen Freunde eher nicht über die körperlichen Möglichkeiten, um die Hilfe von erwachsenen Kindern ersetzen zu können. Die Wahrscheinlichkeit, im fragilen Alter umfassend unterstützt zu werden, sei für sie deshalb kleiner als für Personen in familiären Beziehungen. „Entsprechend gehen wir ganz allgemein davon aus, dass Menschen ohne Familienangehörige auf mehr professionelle Betreuung und Pflege angewiesen sind“, schreiben Carlo Knöpfel und Nora Meuli in ihrer Studie.
Und das wiederum ist eine Frage der wirtschaftlichen Ressourcen. Vulnerable ältere Menschen seien diesbezüglich in einer schlechten Ausgangslage. „Dabei trifft es die Frauen gleich doppelt: Sie haben ein höheres Armutsrisiko im Alter, weil sie wegen der geleisteten Sorgearbeit eine kleinere Rente bekommen.“ Bessere, flexiblere und vor allem bezahlbare Entlastungsangebote für fragile ältere Menschen gehörten darum auf die politische Agenda, erklärte Studienautorin Nora Meuli gegenüber der „Zeitlupe“. „Wichtig ist ein Netz, das alte, fragile Menschen trägt – mit oder ohne Familienangehörige.“ – 12.1.2021
beat.buehlmann@luzern60plus.ch
*Download oder Bestellung der Kurzfassung zur Studie unter www.im-alter.ch