Was aus Liebe oder Notwendigkeit geschieht, kann einen Menschen an die Grenzen bringen, wenn er sich dabei nicht unterstützen lässt. Bild: Shutterstock (zvg «Zeitlupe»)

Rund um die Uhr im Einsatz

Oft werden Angehörige vergessen, die einen kranken oder behinderten Menschen betreuen und pflegen. Sie sind teilweise fast pausenlos im Einsatz. Rechtzeitig Hilfe und Unterstützung anzunehmen, ist unabdingbar.

Von Monika Fischer

Marianne G. freut sich über den unbeschwerten Tag, ist doch ihr Mann beim Tagesaufenthalt im «Der Rote Faden» in Luzern gut aufgehoben. Sie hat einen langen Marsch hinter sich und erzählt lebhaft von den letzten Jahren. Es war beim Ausbruch von Corona, als bei ihrem damals 77-jährigen Mann erste Anzeichen einer Demenz auftraten. «Er, der sein Leben lang beruflich mit Zahlen zu tun hatte, brachte diese nicht mehr zusammen und hatte Mühe, Sätze zu bilden.»

Die Krankheit war für sie nicht neu, war doch kurz zuvor ihre Mutter nach einer fünf Jahre dauernden Demenzerkrankung gestorben. Nach der Diagnose empfahl ihr der Hausarzt, mit Monika Schuler von der Infostelle Demenz von Pro Senectute und Alzheimer Luzern Kontakt aufzunehmen. Marianne freut sich: «Es war das Beste, was mir passieren konnte. Ich habe die Beratungsstelle sofort aufgesucht und lasse mich dort seither regelmässig beraten.» Obwohl sie die Krankheit von der Mutter kannte, war vieles Neuland, da sie nun persönlich und unmittelbar mitbetroffen war.

Für beide denken
Die Krankheit entwickelte sich nach und nach. Immer wieder gingen Fähigkeiten verloren. «Heute ist kein richtiges Gespräch mehr möglich. Mein Mann ist wie ein Kind, in der Regel sehr herzlich, liebenswürdig und höflich. Er kann nicht so lange ruhig sitzen – zum Beispiel während eines Konzerts – und sagt hemmungslos, was er denkt.» Sie erzählt aber auch von Momenten, wenn er unerwartet aus seiner Welt herausgerissen wird: «Dann kann er schimpfen und hat mich auch schon eine ‹böse Hexe› genannt. Das fährt ein und schmerzt. Ich muss den Umgang mit ihm lernen und herausfinden, wie ich ihn beruhigen und ablenken kann.»

Marianne ist froh, dass er die Körperpflege mit ihrer Unterstützung noch selber verrichten kann. Doch muss sie Impulse zum Duschen und Anziehen geben. Sie erzählt auch von lustigen Szenen, bei denen sie herzhaft lachen können: «Wenn er sich zum Beispiel mit der Zahnbürste die Haare kämmen will. Und doch tut es auch weh zu sehen, wenn er sich mit Zahnpasta statt mit Rasierschaum einstreicht.» Sie erzählt von Menschen, die mit der Situation nicht umgehen können und sich zurückziehen und freut sich über Verständnis in der Öffentlichkeit: «Wenn er einer Frau im Bus ein Kompliment macht, wie hübsch sie sei, erhalte ich ein verständnisvolles Nicken auf mein Flüstern, er sei dement.»

Der Radius wird kleiner
Sie ist froh, dass ihr Mann abends früh müde ist, in der Regel gut schläft und sie ihn dann auch allein lassen kann. «Doch ist unser Radius kleiner geworden, wir können nicht mehr so viel gemeinsam unternehmen. Auch mein Leben ist dadurch eingeschränkt. Seit fünf Jahren frühpensioniert, bin ich mit 64 noch voller Tatendrang. Deshalb ist für mich Entlastung wichtig, damit ich auch etwas für mich tun kann, dass ich Kräfte tanken, mich auf etwas freuen kann und eine Perspektive habe.» Wertvoll ist für sie die gute Nachbarschaft. Dazu gehören drei Personen im Haus, die sie jederzeit anrufen kann. Sie hat gelernt, dass sie den Alltag nicht allein bewältigen kann und Hilfe annehmen muss.

Angebote zur Entlastung
Dies zeigte ihr auch der regelmässige Besuch der Gesprächsgruppe für Angehörige in ähnlichem Alter: «Der Austausch über unsere Befindlichkeit und die Erfahrungen im Alltag ist für mich sehr wichtig. Dazu gehört, dass wir uns Zeit nehmen müssen für unsere Bedürfnisse. Wir werden auch stets informiert über Angebote, was ich sehr schätze.»

Das gemeinsame Singen für Demente und das Theaterprojekt von Alzheimer Luzern brachten für sie und ihren Mann Abwechslung in den Alltag. Am Donnerstag bringt sie ihn um zehn Uhr in den Quartiertreffpunkt Vicino Würzenbach, wo er beim Rüsten und Kochen mithilft und gut aufgehoben ist. Sie nutzt die Zeit vor dem gemeinsamen Essen für einen Marsch. Drei Highlights geben ihr daneben neue Energie: der Saaldienst im KKL Luzern, das wöchentliche Singen im Johannes-Chor und das Golfen. Möglich ist es dank der guten Nachbarn, der Tagesbetreuung im «Roten Faden» und Ferientagen auf dem «Hof Rickenbach».

Dankbarkeit und gute Erinnerungen
Nach Ausbruch der Krankheit war es für Marianne selbstverständlich, dass sie für ihren Mann da sein wollte. Sie bezeichnet sich als positiven Menschen, der das Glas stets halb voll sieht: «Hadern bringt nichts, es ist entscheidend, wie man mit der Situation umgehen kann. Es braucht dazu viel Geduld, Gelassenheit und eine grosse Portion Liebe, die in 40 Jahren gewachsen ist.» Wenn es trotzdem auch schwierige Situationen gibt, stellen sie die Dankbarkeit ihres Mannes und die vielen guten Erinnerungen wieder auf. Hilfreich ist für sie auch ihr Glaube: «So schicke ich auch einmal ein Stossgebet gegen den Himmel: Herrgott, jetzt hilf du!»

Sie ist sich bewusst, dass mit dem Fortschreiten der Krankheit der Eintritt in eine Institution unausweichlich ist. «Deshalb strecke ich die Fühler nach einem möglichem Heimplatz in der Nähe aus, wo er gut betreut wird.» Wegweiser für den richtigen Zeitpunkt ist für sie das Ampelsystem: «Es ist dann, wenn es Orange und nicht schon Rot aufleuchtet.»

Gesellschaftliche Bedeutung
Wie Marianne G. leisten auch zahlreiche andere Frauen und zunehmend auch Männer unbezahlte Betreuungs- und Pflegearbeit für alte, kranke und behinderte Menschen. Sie tun es häufig unbeachtet von der Öffentlichkeit im Stillen: aus Liebe, weil sie es bei der Eheschliessung versprochen haben oder weil sie keine andere Möglichkeit sehen. Wenn sie nicht rechtzeitig Hilfe annehmen, kommen sie durch die zunehmende Belastung an ihre Grenzen. Vor allem dann, wenn die Pflege und/oder Betreuung an einer Person hängen bleibt.

Überforderung und fehlende Wertschätzung können unbewusst zu subtiler Gewalt führen. Deshalb ist es wichtig, dass die lange Zeit unbeachtete Situation der pflegenden und betreuenden Angehörigen in den letzten Jahren zu einem öffentlichen Thema wurde.

Erster Schritt im Kanton Luzern
Mit den gesellschaftlichen Veränderungen hat auch die Politik die Bedeutung der betreuenden und pflegenden Angehörigen erkannt. Denn diese leisten gemäss SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen jährlich in der Schweiz rund 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit. Bei angenommenen durchschnittlichen Arbeitskosten von 45.50 Franken/Stunde entspricht das einem Geldwert von 3,7 Milliarden Franken. Dies zeigt, was auf den Staat zukommt, wenn nur ein Teil dieser Arbeit wegfallen würde.

Im Kanton Luzern wurden pflegende und betreuende Angehörige in den letzten Jahren mehrmals zu einem öffentlichen Dankesanlass mit wertvollen Informationen eingeladen. Die von der Mitte initiierte Privatpflege- und Betreuungsinitiative – sie forderte einen Steuerabzug von 5000 Franken vom steuerbaren Einkommen – fand im Kantonsrat keine Unterstützung, weil Personen mit geringem Einkommen nicht profitieren. Doch sieht der kürzlich im Kantonsrat genehmigte Gegenvorschlag, der ins Betreuungs- und Pflegegesetz integriert wird, eine Zulage von 800 Franken jährlich sowie Gutscheine für Unterstützungsangebote im Wert von 1200 Franken vor. Mit dieser Lösung ist ein erster Schritt gemacht. Es wird nicht reichen, nimmt doch die Bedeutung des freiwilligen Engagements angesichts der demografischen Alterung der Gesellschaft mit jedem Jahr zu.

Anlaufstellen für betreuende und pflegende Angehörige

Pro Senectute Kanton Luzern, Tel. 041 226 11 88, info@lu.prosenectute.ch

Infostelle Demenz, Tel. 041 210 82 82, infostelle@alz.ch

Schweizerisches Rotes Kreuz, Entlastungsdienst für pflegende Angehörige, Tel. 041 418 74 74, info@srk-luzern.ch


20. Februar 2023 – monika.fischer@luzern60plus.ch