"Die Schule war für mich das schönste Lernumfeld"

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Foto)

"Die Tafelente nehme ich", sagt Urs Petermann zu seinen beiden Begleiterinnen. "Das ist wahrscheinlich eine russische, die zu uns hierher ins Winterquartier fliegt", fügt er für mich, Neuling unter den Ornithologen, erklärend hinzu. In den Brutgebieten Nord- und Osteuropas gefrieren die Gewässer im Winter zu und sind deshalb für die Wasservögel monatelang nicht bewohnbar. So fliegen sie in wärmere Regionen. Sie hätten schon eine Reiherente registriert, die - aus Sibirien kommend - 8100 Kilometer bis zu unseren Gewässern zurückgelegt hatte, berichtet Urs Petermann. Für diese Strecke brauchte sie, bei 40 bis 50 Stundenkilometern, mindestens zwei bis drei Wochen.

Das Trio von der Ornithologischen Gesellschaft der Stadt Luzern (OGL) ist an diesem kühlen Herbstsonntag am Rotsee unterwegs, um die Wasservögel zu zählen. Petermann stellt das Fernrohr auf, nimmt die Wasservögel am anderen Ufer in den Blick und knipst jedes einzelne Exemplar auf seinem kleinen Zählgerät. Seine beiden Begleiterinnen Silvia und Elisabeth, mit guten Schuhen und Feldstecher ausgerüstet, zählen die Vögel auf unserer Seite. Das geht manchmal nicht ohne Absprachen. "Habt ihr die Stockente genommen?", fragt Petermann. Dann werden Zahlen notiert: "117 Reiherenten, 238 Tafelenten." Und weiter geht es, am Ufer des Rotsees entlang - bis am Schluss werden sie weit über tausend Wasservögel gezählt und fein säuberlich auf ihren Formularen registriert haben.

Seit Mitte der Fünfzigerjahre werden die Wasservögel im Luzerner Seebecken, auf der Reuss und auf dem Rotsee von sechs OGL-Teams einmal monatlich von September bis April gezählt, alles freiwillig. Koordinator Urs Petermann (77) war heute Morgen bereits am Luzerner Seebecken unterwegs, um auch dort die Wasservögel zu zählen. Die Zählresultate werden der Schweizerischen Vogelwarte Sempach gemeldet. Petermann ist ein Naturforscher aus Leidenschaft. Kaum einer kennt die Vögel so gut wie er; einen Waldlaubsäger etwa kann er ohne weiteres nachahmen. Er ist während des Zweiten Weltkriegs in Aarau aufgewachsen, erinnert sich, wie im Mai 1945 zum Friedensschluss die Kirchenglocken läuteten und die Kinder, zur Feier des Tages, ein Stück Schokolade bekamen.

Die "Petermännli" aus dem Labor
Urs Petermann studierte an der ETH in Zürich Naturwissenschaften und schloss mit der strahlengenetischen Doktorarbeit «Mutationen nach Röntgenbestrahlung früher Entwicklungsstadien der Fruchtfliege Drosophila» ab.  Zur Fliegenaufzucht entwickelte er die sogenannten «Petermännli». "Für eine akademische Laufbahn war ich zu wenig intelligent", sagt Petermann rückblickend. "Ich bin eher der Analytiker als der erfindungsreiche Kombinierer." Mit dem abgeschlossenen ETH-Studium und dem Ausweis für das Höhere Lehramt unterrichtete er als Biologielehrer von 1967 bis 2001 an der Kantonsschule Alpenquai.

Grosses freiwilliges Engagement
Petermann wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Gigeliwald, die Vögel gehören zu seinem alltäglichen Bekanntenkreis. Und es fällt ihm auf, wenn einer nicht mehr auftaucht - wie zum Beispiel der Waldkauz, den er am 12. Dezember 2013, wie er sich präzis erinnert, zum letzten Mal an seinem Tagesplatz im Kamin des Nachbarhauses gesehen hat. Sein immenses Wissen über die Vogelwelt hat er sich in praktischer Anschauung in der Natur selber angeeignet. "Meine Eltern haben mir das nicht beigebracht, die hatten keine Zeit und auch nicht das Wissen." Petermann engagierte sich bei Pro Natura (Vorstandsmitglied während 27 Jahren), wurde Mitglied der Naturforschenden Gesellschaft Luzern (im Vorstand von 1970 bis 2002) und trat der Ornithologischen Gesellschaft der Stadt Luzern bei (seit 1969 im Vorstand, von 1990 bis 2014 als deren Präsident).

"Eine Zeitlang war ich ehrenamtlich jeden zweiten Tag für Tiere unterwegs", sagt er. Denn er machte eine Art Triage für alle Nöte in der Vogelwelt aber auch bei Amphibien und Reptilien. So hat er zum Beispiel Nacht für Nacht den Fröschen und Kröten im Hinterland über die Strasse geholfen. Woher rührt dieses unglaubliche Engagement? Urs Petermann macht keine grossen Worte, viel gibt es nicht zu erklären. Vielleicht waren es die Sommeraufenthalte im Ferienhaus seines Grossvaters am Hallwilersee, die den künftigen Naturforscher geprägt haben. Was macht denn einen guten Ornithologen aus? "Genau hinhören und schauen, Geduld haben und die Sinne offen halten", sagt Urs Petermann. "Ich muss leer sein, um mich auf die Vogelwelt einlassen zu können." Deshalb ärgert er sich über Handys auf ornithologischen Exkursionen, weil sie im Wald nur ablenken.

Viel von den Schülern gelernt
"Am liebsten war ich mit den Schülern draussen, denn von und mit ihnen habe ich am meisten gelernt", sagt er. "Das war für mich das schönste Lernumfeld." So hätten sie auf einer naturkundlichen Exkursionswoche knapp 100 Vogelarten bestimmt, einige waren auch für mich Erstbeobachtungen. Urs Petermann führt immer ein Notizheft bei sich, um seine Beobachtungen aufzuschreiben. Auch in den Ferien war er oft unterwegs, gegen 300 Exkursionen dürfte er während den 40 Jahren geleitet haben. Urs Petermann gibt mir ein A4-Blatt zu den "Tätigkeiten von Dr. sc. nat. ETH Urs Petermann" in die Hand - es ist ein unglaublicher Leistungsausweis der Freiwilligenarbeit. Studienwochen und naturkundliche Wanderwochen in den Sommerferien, Studienwochen in ganz Europa während den Osterferien, Sommerlager mit dem Luzerner Jugendnaturschutz und, so nebenbei, hat er auch noch den Verein "Freunde des Natur-Museums Luzern" mitgegründet und während 21 Jahren präsidiert.

Das Schweigen der Vögel
Als ich diesen Sommer auf Einladung des Quartiervereins Obergrund als Grünschnabel eine kleine ornithologische Exkursion auf den Sonnenberg mitmachte, kam Urs Petermann, eher beiläufig, auch auf seine altersbedingt eingeschränkte Hörfähigkeit zu sprechen - und verwies auf seine jüngere Begleiterin, die ihn auf hohe Vogelstimmen aufmerksam machte. "Es gibt Vogelstimmen im höheren Hertz-Bereich, die ich nicht mehr hören kann." Oder die er nicht mehr so erkennen kann. Das „hijä" des Mäusebussards zum Beispiel hört er nicht mehr auf 300 Meter Distanz, sondern erst auf 150 Meter Entfernung." Für einen Ornithologen ist der Hörverlust ein kleiner Weltuntergang. Denn er bedeutet das langsame Schweigen der Vogelwelt. "Manchmal sehe ich wie ein Vogel seinen Schnabel öffnet - und kann doch nichts hören." Vor 20 Jahren hat er erstmals gemerkt, dass er nicht mehr so gut hört. Nach vier, fünf Jahren hat er dann seine Hemmungen überwunden und sich ein Hörgerät besorgt, das er inzwischen nicht mehr missen möchte. Aber die Nebengeräusche lassen sich nicht aus der Welt schaffen, und die Vögel werden zusehends verstummen. "Ich kann schlecht damit umgehen", räumt Urs Petermann ein, "daran merke ich, dass ich alt werde."

Am Rotsee sind die drei Ornithologen inzwischen an der Naturarena angekommen. An der anderen Seeseite sitzen Schwärme von Vögel im Wasser, ganz ruhig, als ob sie wüssten, dass sie gezählt werden müssten. Für Tafelenten und Reiherenten dient der störungsfreie Rotsee als Tagesruhestätte, bevor sie über Nacht für die Nahrungsaufnahme an den Vierwaldstättersee pendeln. Am Rotsee sind Ruderboote von Mitte Oktober bis April nicht mehr zugelassen. "Zum Glück", sagt Urs Petermann, der sich stark für diese Regelung engagiert hat. "Denn durch die Ruderbewegungen werden die Wasservögel aufgeschreckt, fliegen auf und verlieren dabei Energie." Doch diese Energie haben sie zum Überleben nötig. Schon im Februar beginnen die hier überwinternden Vögel, seien sie aus Skandinavien oder Russland, nach Norden und Osten heimzufliegen. Allerdings macht sich auch hier der Klimawandel bemerkbar. Immer öfter bleiben Wintergäste wie die Reiherente im Norden und überwintern näher bei ihren Brutgebieten. Das wissen die Ornithologen, weil sie auch an kalten Tagen draussen sind und die die Vögel zählen. - 1.12.2016
www.ogl-luzern.ch