„In jedem Quartier braucht es
einen Kümmerer für Demenzkranke"

Mit Maria Koch Schildknecht sprach Beat Bühlmann

Seit dem Frühjahr 2004 bietet „Der rote Faden", eine Tochterstiftung der Albert Koechlin Stiftung, in Luzern Beratung, Seminare und Weiterbildung für Angehörige von Menschen mit Demenz und Fachpersonen an. Dazu gehört eine Tagesbetreuung für Menschen mit Demenz und weitere Angebote wie das Erzähl- und Tanzcafé für Angehörige zusammen mit Menschen mit Demenz und das ZuKo, Zusammen Kochen für Männer mit einer beginnenden Demenz. Treibende Kraft hinter diesem Pioniervorhaben war Maria Koch. Ende Mai geht die 64-Jährige in Pension. Maria Koch ist diplomierte Bäuerin, wechselte mit 37 Jahren von der Landwirtschaft in die Betagtenbetreuung (unter anderem im Eichhof) und ist Erwachsenenbildnerin. 2003 begann sie mit dem Aufbau des Demenzzentrums „Der rote Faden". Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder und zwei Grosskinder.

Du hast die Institution „Der rote Faden" aufgebaut, als Pionierin dürfte dir der Abschied nicht so leicht fallen?
Maria Koch: Doch, ich bin froh, dass ich aufhören kann. Ich spüre die Müdigkeit, es war anspruchsvoll die letzten Jahre. Viele mussten immer wieder überzeugt werden, dass es diese Form der Tagesbetreuung braucht.

Warum ist „Der rote Faden" nötig?
Die Zahl der Demenzkranken wächst, manche Angehörigen daheim sind überlastet, auch wenn sie das oft selber nicht spüren, da die Demenz sich langsam und an jedem Tag anders bemerkbar macht. Es braucht die Tagesbetreuung als einen Ort zwischen der Betreuung zu Hause und der stationären Betreuung im Heim. Die Tagesbetreuung ermutigt die Angehörigen, Menschen mit Demenz ohne Schuldgefühle zumindest für ein paar Stunden in die Obhut anderer geben zu können. Doch die Tagesbetreuung ist nicht nur eine Entlastung für die Angehörigen, sondern auch eine hilfreiche Therapie für die Menschen mit Demenz. Das ist für mich vielleicht die erstaunlichste Erkenntnis aus diesen zehn Jahren.

Warum eine Therapie?
Wir können „unsere Gäste beschäftigen, in der Küche, in der Werkstatt, im Garten, die Angebote sind auf die Vorlieben, Bedürfnisse und Ressourcen jeden Einzelnen zugeschnitten. Und wir ermöglichen ihnen Begegnungen mit anderen an Demenz erkrankten. Menschen mit Demenz sind gerne in Gruppen, auch wenn sie im Vorfeld immer dazu ermutigt werden müssen. Nach der Tagesbetreuung gehen sie oft in einer gelösten Stimmung nach Hause zurück, fühlen sich zum Beispiel nachher viel gelöster und sicherer, bei Gesprächen mit Freunden am Telefon.

Menschen mit Demenz fühlen sich also zu Hause nicht unbedingt besser?
Sich den Veränderungen, die die Demenzkrankheit mit sich bringt, ständig anpassen zu müssen ist nicht nur für Angehörige eine grosse Herausforderung. Angehörige haben nebst den alltäglichen Verpflichtungen nicht immer die nötige Zeit, oft auch gar keine Kraft mehr dazu. Zudem gibt das Zusammensein mit anderen Menschen ihnen ein stärkeres Geborgenheitsgefühl. Viele Angehörige haben immer noch grosse Hemmungen, solche Entlastungsangebote zu beanspruchen und ihren Partner in eine Tagesbetreuung zu geben.

Was bedeutet Demenz für eine Partnerschaft?
Es ist schwer zu verstehen und zu akzeptieren, dass sich der vertraute Ehepartner völlig verändert. Ihnen fehlt plötzlich mit der fortschreitenden Demenz immer mehr der Partner für den Austausch und man wird langsam einsam. Oft schämen sich die Familien für das Verhalten ihres Familienmitgliedes, wollen ihn schützen und gehen deshalb nicht mehr aus dem Haus.

Sie sind oft überfordert?
Ja, denn die – vielfach auch schon betagten - Angehörigen können das allein nicht meistern. Es ist für Angehörige ohnehin viel schwieriger zu akzeptieren, dass ein vertrauter Mensch sich völlig verändert. Das führt zu Hilflosigkeit. Sie können manches nicht verstehen, was der Partner tut. Die partnerschaftliche Beziehung geht verloren. Die eine wird zur Pflegerin, der andere zum Hilfsbedürftigen – oder umgekehrt. Das ist manchmal schwer zu ertragen. Deshalb ist die Beratung für Angehörige so wichtig. Dabei geht es um das Verstehen der Krankheit Demenz aber auch um die Unterstützung bei der Suche nach Entlastung und Begleitung

Wissen wir denn heute mehr über die Demenz?
Das Bild von der Demenz hat sich in den letzten 20 Jahren – ich befasse mich ja seit 1993 mit diesem Thema – markant verändert. Früher waren mit der Demenz nur Horrorszenarien verbunden: Sie sind aggressiv, laufen immer weg, sind ohne Geist, dämmern einfach weg. Von diesen völlig negativen Vorstellungen sind wir doch weggekommen. Demenzkranke melden sich öffentlich zu Wort, gehen in Museen und zeigen, dass auch ein Leben mit Demenz möglich ist.

Trotzdem, für viele ist Demenz das Schlimmste, was ihnen im Alter passieren kann.
Das mag sein. Auch ich würde erschrecken, wenn mir der Arzt die Diagnose Demenz eröffnen müsste. Demenz ist nicht die Krankheit, die ich mir im Alter wünsche. Ich will diese schwierige Krankheit keineswegs beschönigen, und eigentlich wissen wir immer noch zu wenig darüber. Doch wer mit Menschen mit Demenz zusammenarbeitet, hat viel weniger Angst davor. Oft sagen mir Söhne oder Töchter, dass sie ihrem Vater, ihrer Mutter durch die Demenz viel näher gekommen sind. Viel zum Verständnis und besseren Umgang mit Demenz tragen die Seminare bei. Sie sind ebenfalls eine grosse Unterstützung für Angehörige wie auch für Fachpersonen.

Wie kommt es eigentlich, dass du dich so stark diesem Thema verschrieben hast?
Ich habe mich früher als Bäuerin gar nicht damit befasst. Es gab bei uns auf dem Land eine Frau, die etwas verwirrt über die Wiesen stolperte und die nach landläufiger Auffassung unter „Arterienverkalkung" litt, wie man damals sagte. In der Betagtenbetreuung habe ich mich dann für Menschen mit Demenz zu interessieren begonnen. Ich fand sie faszinierend, weil sie vielleicht eine andere Seite des Lebens zeigten und so etwas wie Philosophen waren.

Die Zahl der Demenzkranken wird sich innert weniger Jahre verdoppeln, die nationale Demenzstrategie will dem vorbeugen. Stimmt die Richtung?
Ich setze grosse Erwartungen in die nationale Demenzstrategie. Das Problem ist nur, dass sie auf kantonaler und kommunaler Ebene umgesetzt werden muss. Dort wird sich zeigen, ob sie etwas bewirkt oder nur ein Papiertiger ist.

Mit dem Projekt „SOwieDAheim", einer familiären Tagesbetreuung in Gastfamilien, startet „Der rote Faden" ein neues Vorhaben. Warum?
Mit der Tagesbetreuung an einem festen Ort sind wir fast schon wieder zu institutionell. Wenn drei, vier Demenzkranke einmal wöchentlich gemeinsam zu einer Gastfamilie eingeladen sind, können sie das besser akzeptieren. Sie sind dann bei „Freunden zu Hause". Und die Demenzkranken sind im Quartier präsent, weil sie zum Beispiel gemeinsam zum Einkaufen gehen. Demenz wird somit sichtbar und verliert seinen Schrecken. Menschen mit Demenz werden nicht mehr versteckt wie in, wie man früher sagte „geschlossenen Abteilungen". Und wir reden mit ihnen. Denn das ist das Schlimmste an dieser Krankheit, dass niemand mehr mit dir redet.

Was wäre denn zu tun, um ein demenzfreundliches Quartier zu schaffen?
Es bräuchte in jedem Quartier einen aufmerksamen „Kümmerer", der merkt, wenn Leute sich selber verlieren und zum Beispiel in der Migros immer das Gleiche einkaufen. Und ich wünschte mir Quartiertreffs oder Alzheimer-Cafés, in dem auch demenzkranke Frauen und Männer, ebenso Angehörige von Menschen mit Demenz ein- und ausgehen, mit Fachpersonen, die wenn gewünscht nötige Informationen vermitteln könnten.

Du gehst in Pension und planst schon weitere Projekte?
Nein, für ein Jahr will ich nur für mich Zeit haben und keine fremden Verpflichtungen eingehen. Ich lerne Russisch und möchte vermehrt in dieses Land reisen, das mich seit der Kindheit nicht mehr los lässt. Ich träume von weiten Veloreisen, möchte wieder jodeln lernen. Doch später werde ich mich freiwillig engagieren. Vielleicht mit Menschen mit Demenz wandern, mit ihnen Singgruppen bilden oder ins Museum gehen.

www.derrotefaden.ch