Jolanda Lucchini - publizierbar.ch ©2010

Hausgemeinschaft Haus Sein –

Glücksfall und Herausforderung

Heute kommen jene Jahrgänge ins Rentenalter, die in den 1960er- und 1970er-Jahren jung waren. Und vielleicht damals in einer Wohngemeinschaft gelebt oder auch bloss von gemeinschaftlichem Wohnen geträumt haben. Ist jetzt die Zeit gekommen, solches mit Gleichgesinnten (nochmals) zu realisieren? Wenn auch nicht als Wohngemeinschaft im engen Sinn, sondern als Hausgemeinschaft, in der jeder und jede eine eigenen Wohnung hat, wo aber das Gemeinschaftliche aktiv gepflegt wird? In letzter Zeit ist diese Wohnform für Ältere wohl öfter beschrieben und angedacht als tatsächlich verwirklicht worden.

Haus Sein – ein funktionierendes Modell
In der Berner Altstadt besteht die Hausgemeinschaft im Haus Sein seit bald sechs Jahren. Als gemeinnützige Genossenschaft organisiert, wohnen heute in den mehrheitlich 2-Zimmer- und einigen grösseren Wohnungen neun Frauen und fünf Männer, darunter drei Paare. Sie haben ganz unterschiedliche Lebens- und Berufswege hinter sich, die meisten leben schon lange in Bern, andere sind von Neuchâtel oder Zürich extra hierher gezogen.

Die Initiantinnen und Initianten wollen an sich auch für Jüngere und Familien offen bleiben. In der Realität gehört aber nur ein Paar gegen 40 zur Gruppe - sowie zwei jüngere MieterInnen, deren Status weniger verbindlich ist. Die Altersspanne in der Gruppe reicht von 37 bis 72, die Mehrheit ist über 60-jährig.

Gemeinsame Ideale – offen interpretiert und individuell gelebt
In der gemütlichen Sofaecke im Gemeinschaftsraum gleich neben dem Hauseingang werde ich bei meinem Besuch von Margrit, Peter und Louise herzlich empfangen und mit der Lebensart der Hausgemeinschaft vertraut gemacht. Peter, Mann der ersten Stunde, erzählt: „Mir und meiner Frau war schon lange klar, dass wir im Alter gemeinsam mit Freunden wohnen wollen. Um diese Projektidee bildete sich 2002 eine erste Gruppe, von der sich die jüngeren Mitglieder aber bald einmal trennten“, erinnert er sich.

Ein vierköpfiger harter Kern blieb dran am Projekt und entwarf ein Leitbild, das die Ideale der künftigen Hausgemeinschaft festhielt: Ökologie, Gemeinschaftlichkeit und Spiritualität – Werte, die heute noch gültig sind. Wer neu zur Projektgruppe stiess, musste sich damit identifizieren können. Und dies konnte und kann zum Beispiel Louise sehr gut: „Ich bin sehr glücklich hier. Meine Erwartung, mit Leuten zusammen zu sein, ist erfüllt. Und ich will im Alter mit weniger Platz auskommen, mit meiner kleinen 2-Zimmer-Wohnung bin ich deshalb ganz zufrieden“, sagt sie in ihrem leicht englisch eingefärbten Berndeutsch. Margrit war zum Zeitpunkt des Entscheids, in der Hausgemeinschaft mitzumachen, noch berufstätig. „Ich hatte Bedenken, ob mir das Verhältnis von Nähe und Distanz entsprechen würde. Leute im Rentenalter haben andere Bedürfnisse an soziale Kontakte als Erwerbstätige. Darum hatte ich zuerst Angst vor zu viel Nähe.“ Doch ihre Bedenken von damals sind verflogen. Dank der Offenheit der Gemeinschaft ist ihr heute sehr wohl hier.

Soziale Kontakte pflegen Margrit und andere reichlich auch ausserhalb des Hauses. Umgekehrt ist das Haus Sein offen für Interessierte und Freunde. Hier finden kulturelle, soziale und politische Veranstaltungen statt, ein Konzert, eine Lesung oder Ausstellung. Der Meditationsraum, den Hildi ästhetisch ansprechend eingerichtet hat, wird regelmässig von externen Gruppen gemietet. An diesem Ort der Stille wird ein Aspekt des Leitbildes, die „Spiritualität, für die Bewohnerinnen und Bewohner gemeinsam erfahrbar; Hildi bietet mehrmals wöchentlich hausintern Zen-Meditation an, an denen manche teilnehmen, andere nicht.

Die Samstagssuppe
Ein schönes Beispiel von Offenheit und Gemeinschaft kann ich gleich miterleben. Ich werde an den grossen Tisch im Gemeinschaftsraum mit offener Küche geladen, wo sich eine stattliche zwölfköpfige Runde zur wöchentlichen Samstagssuppe versammelt, mehrheitlich Leute aus dem Haus und drei, vier Gäste. Hildi tischt die frische Gemüsesuppe auf und lässt uns rätseln, was da drin ist, aber nicht alle Ingredienzien werden erkannt. Bald kommen angeregte Gespräche in Gang. Jemand wird von der Runde mit Informationen zur Wahl der richtigen Krankenkasse eingedeckt. Und ein Defekt des Backofens – darauf weist der zu wenig gebackene Boden des exquisiten Quittenkuchens hin – wird umgehend von ein paar Sachverständigen behoben.

Rundgang durchs Haus
Nach dem Essen werden mir mehrere Wohnungen gezeigt. Sie sind höchst individuell eingerichtet und jede hat ein Fenster, das vom Lichthof aus Einblick gewährt und von innen Aussicht zum Lichthof, der so als verbindendes Element funktioniert. Auch andere Details sind darauf ausgerichtet, Kontakte von selbst entstehen zu lassen. Wer die Zeitung aus dem Briefkasten holt, wird vom Gemeinschaftsraum aus schnell zu einem Kaffee gerufen. Und sogar die Waschküche mit Bügelbrett wird zum informellen Treffpunkt. Ein Gästestudio mit Kochnische und Blick auf die Aare gehört zum Haus und kann von allen Bewohnerinnen und Bewohnern für ihre Gäste reserviert werden. In der übrigen Zeit wird es an Fremde vermietet, was neue Kontakte schafft und einen willkommenen Beitrag in die Gemeinschaftskasse einbringt.

Alle tun etwas für das Haus
Infrastruktur und Unterhalt, Administration, Aktivitäten der Hausgemeinschaft – das alles gibt eine Menge Arbeit. Dafür gibt es diverse Arbeitsgruppen. Einmal im Monat findet die Haussitzung statt, wo die Arbeitsgruppen informieren oder auch eine neue ad-hoc-Gruppe für eine besondere Aufgabe gebildet wird. Nur die Buchhaltung wird einem externen Profi vergeben. Doch die Verantwortung für die ganzen Finanzen bleibt der Genossenschaft. Ja, das Ganze ist anspruchsvoll, sagen einige, die sich das zuvor nicht so vorgestellt hatten.

Eine Vorgeschichte mit Auf und Ab
Wie selbstverständlich heute in der Hausgemeinschaft so vieles abläuft, lässt nicht vermuten, dass dem Erfolg eine schwierige Vorbereitungszeit vorausging. Nach mehreren gescheiterten Versuchen, an ein geeignetes Haus zu kommen, musste plötzlich alles ganz schnell gehen: Als das Altstadthaus, zuvor als Bürohaus genutzt, zu kaufen war, musste seine Eignung zum Wohnen geklärt, die Genossenschaft gegründet und die Finanzierung – rund 5 Millionen Franken für Hauskauf und Umbau – gesichert werden. Das erscheint teuer, und doch kann man bereits mit einem Betrag von rund 15 000 Franken Genossenschafter bzw. Miteigentümerin des Hauses werden. Der Gemeinschaft ist wichtig, dass auch Menschen in eher bescheidenen finanziellen Verhältnissen sich beteiligen können. Dank einem überzeugenden Konzept hat auch die Age Stiftung einen beachtlichen Investitionsbeitrag geleistet.

Waren es beim Hauskauf 2005 erst sieben Entschlossene, stiessen während der Projekt- und Umbauphase weitere dazu, bis beim Einzugstermin ein Jahr später die Gruppe komplett war. Attraktiv ist neben dem Ideellen auch die Lage des Hauses, mit Blick auf die Aare auf der einen, auf die verschachtelten Altstadthäuser auf der anderen Seite. Dazu kommen die nahe gelegenen Einkaufsmöglichkeiten und der gute Anschluss an den öffentlichen Verkehr.

Gegenseitige Unterstützung hat Grenzen
In den letzten Jahren ist die Hausgemeinschaft relativ stabil, es hat nur vereinzelte Wechsel gegeben. Eine Familie mit Kindern ist weggezogen. Eine Frau wurde wegen Hirnleistungsstörungen zunehmend pflegedürftig. Zunächst hat sich die Hausgemeinschaft um sie gekümmert. Doch irgendwann stellte sich die Frage: Wie lange können wir die nötige Unterstützung leisten? Schliesslich musste sich die Gruppe eingestehen, dass diese Mitbewohnerin professionelle Pflege brauchte. Sie ist inzwischen umgezogen. Als eine andere Bewohnerin nach einem Unfall eine zeitlang an den Rollstuhl gebunden war, funktionierte jedoch die hausinterne Betreuung bestens. Die Erfahrung, dass die gegenseitige Hilfe Grenzen hat, führte zu einer Klärung: Betreutes Wohnen rund um die Uhr ist in der Gemeinschaft nicht möglich.

Zwischen Autonomie und Gemeinschaft
Natürlich müssen in der Hausgemeinschaft zentrale Werthaltungen zusammenpassen. Das ökologische Bewusstsein, von dem etwa der Minergiestandard des Hauses und die umweltfreundlichen Materialien zeugen, wird von allen geteilt, ebenso werden soziale Werte genau so von allen hochgehalten wie der Anspruch auf Individualität.

Wenn die Hausgemeinschaft mal steht und funktioniert, dann lebt es sich gut so. Aber bis es im Haus Sein so weit war, brauchte es einen langen Atem, viel Energie, Geduld und die Fähigkeit, auch Abstriche an den Erwartungen zu machen. Ein solcher Prozess wird wohl manchen, die grundsätzlich von der Idee begeistert sind, zu aufwändig sein. Das dürfte mit ein Grund sein, warum die Hausgemeinschaft in dieser Art eine Wohnform für Wenige bleiben wird: für willensstarke Individuen mit Eigeninitiative, Gemeinschaftssinn, Experimentierlust und Toleranz. Und mit der Fähigkeit, das Spannungsfeld zwischen Autonomie und Gemeinschaftlichkeit in der Gruppe immer wieder neu zu verhandeln.

 Marietherese Schwegler – 16. Dezember 2012

Haus Sein 
Age Stiftung. Für gutes Wohnen im Alter: Wissen, Publikationen, Förderbeiträge