Ute Birgi:
«Übersetzen heisst, in eine Rolle schlüpfen»
In diesen Tagen erscheint ihr zwölftes Buch, genauer ihre zwölfte Übersetzung aus dem Türkischen: Sabahattin Alis erster Roman «Yusuf» aus dem Jahre 1937. Ein Jahr später wurde im ostpreussischen Allenstein ein Mädchen namens Ute Knellessen geboren. Nichts deutete damals kurz vor Kriegsbeginn darauf hin, dass aus dem Mädchen viele Jahrzehnte später eine bedeutende Übersetzerin und Kulturvermittlerin werden würde.
Der Krieg neigte sich 1944 dem Ende zu, die Russen waren bereits kurz vor Ostpreussen, als Utes Mutter mit den beiden Töchtern Allenstein, das heutige Olsztyn, mit dem Zug Richtung Berlin verliess. Geplant war eine Reise – der Vormarsch der Russen und die sich abzeichnende Niederlage der Deutschen verhinderten eine Rückkehr. Die Reise wurde zur Flucht. Der Vater war zu dieser Zeit noch an der Front, kehrte erst vier Jahre später - nach der Entlassung aus englischer Gefangenschaft – zur Familie zurück. An die Reise kann sich Ute Birgi nicht mehr erinnern. «Meine ersten Erinnerungen haben mit der Ostsee zu tun, und diese Liebe ist geblieben.» Erinnerungen hat sie auch an die Grossmutter, die Pianistin war. Die Musik wurde schon früh zum ersten Berufswunsch, doch eine Rückenwirbelerkrankung, unter der sie bis heute leidet, verunmöglichte nach dem Abitur die Fortsetzung des Violinstudiums. Die zweite Liebe galt den Sprachen: dem Englischen und Französischen vorerst. Doch «weil auch Zufälle das Leben beeinflussen», wie Ute Birgi sagt, kam dann das Türkische dazu: In Deutschland lernte sie Mustafa Birgi kennen, der in Stuttgart in Maschinenbau doktorierte. Mit ihm zog sie 1963 an den Bosporus, gründete eine Familie. «Nach drei Monaten sprach ich so gut Türkisch, dass ich an der Uni den Vorlesungen folgen konnte», erinnert sich Ute Birgi, und seither lebt sie in der Zweisprachigkeit.
Studium als «Rettung»
«Die 17 Jahre in Istanbul waren wichtige Jahre, in denen ich für mich selbst aber sehr wenig Zeit hatte», schaut Ute Birgi zurück. Ihr Mann hatte ihr versprochen, dass sie später ihr Studium wieder aufnehmen und abschliessen könne, doch es dauerte noch viele Jahre, bis sie dieses Versprechen einlösen konnte. 1980 war die vierköpfige Familie nach Luzern gezogen, ihr Mann hatte eine Stelle in der Glasi Hergiswil, daneben noch das Familienunternehmen in Istanbul. Erst nach der Trennung begann sie 1986 an der Uni Bern mit dem Studium. Auf dem Weg von Luzern nach Bern machte sie jeweils in Langenthal noch Zwischenhalt und unterrichtete Türkinnen und Türken in Deutsch. Sie hatte sich gleichzeitig mit ihrem Sohn immatrikuliert, und auch fast alle andern Studierenden waren eine Generation jünger. «Das Studium war für mich die Rettung - und es war wunderbar», sagt sie heute. Gleichzeitig war es der erste Schritt ins professionelle Übersetzen. Das Lizentiat in vorderorientalischer Philologie und Islamwissenschaft an der Uni Bern erwarb Ute Birgi mit 57 – und mit der Bestnote.
Den richtigen Ton treffen
«Übersetzen ist eine einsame Arbeit, und gutes Übersetzen ist wie selber schreiben», beschreibt Ute Birgi ihre Tätigkeit, die zur Leidenschaft geworden ist. «Wie ein Schauspieler, der sich in eine andere Person versetzen muss, so muss ich mich in einen Autor versetzen», präzisiert sie die Übersetzertätigkeit. In allen Büchern, die sie bisher übersetzt hat, spielt Istanbul eine mehr oder weniger grosse Rolle. «Die Sehnsucht nach der grossen Stadt am Meer hat mich nie losgelassen», sagt Ute Birgi, auch wenn Luzern schon längst ihre Heimat geworden und sie seit 2013 auch Schweizerin ist. So fährt sie jährlich immer noch mehrmals in die Türkei, immer ein paar Tage nach Istanbul, dann aber für mehrere Wochen mit einem Übersetzungsprojekt nach Datça am Mittelmeer, wo sie in einer kleinen Pension an einem Gartentisch sich wieder einliest und einfühlt in ein türkisches Buch und dieses dann am Laptop Absatz für Absatz ins Deutsche überträgt.
In Luzern sind die Übersetzungstage weniger stark strukturiert. «Ich muss auf meinen Rücken achten.» Tai chi und Qi Gong tragen zur Schmerzlinderung bei, täglich stehen eine bis anderthalb Stunden Körperarbeit auf dem Programm. Trotzdem gehe die Arbeit mit zunehmendem Alter langsamer voran als früher. Als Ausgleich singt Ute Birgi mit ihrer schönen Altstimme seit vielen Jahren in den Chören von Stephen Smith: früher im Studiochor, jetzt in der Kantorei der Matthäuskirche. «Auch Übersetzen hat viel mit Musikalität zu tun: den richtigen Ton treffen, den Sprachrhythmus finden, die Tonalität hinüberbringen», fasst Ute Birgi ihre beiden Passionen zusammen.
Irgendwann in den nächsten Jahren möchte sie noch einmal ihre Geburtsstadt Allenstein, die sie 1944 verlassen musste und die sie seither nie mehr sah, die jetzt Olsztyn heisst und in Polen liegt, besuchen. Denn schliesslich hat sie von den dortigen Behörden erst vor kurzem eine Abschrift ihrer Geburtsurkunde erhalten, die für Ihre Einbürgerung nötig war. «Bei früheren Anfragen hatte es immer geheissen, dass 1945 alle Dokumente verbrannt seien.»
Hans Beat Achermann, 1. Februar 2014