Die Vermittlung der Kulturgeschichte ist sein Herzensanliegen: Kantonsarchäologe Jürg Manser auf der Museggmauer.
«Du spürst das Leben, wenn Kinderfüsse
aus dem 15. Jahrhundert zu sehen sind»
Sein Leben lang kümmerte er sich um Scherben, Feuerstellen oder Pfostenlöcher. Ordnete auf der ehemaligen Richtstätte Skelette von Mördern und Vaganten. «Man muss die Menschen gernhaben, auch wenn sie tot sind», sagt Jürg Manser. Nun geht der Kantonsarchäologe in Pension.Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bilder)
Im Wachtturm steigen wir die steile Treppe hoch, treten auf den Wehrgang der Museggmauer. Hier öffnet sich ein prächtiger Blick auf die Stadt Luzern, Ausgabe 2023. Ein paar Schritte ostwärts Richtung Schirmerturm klemmt auf dem Geländer ein kleiner Gucker. Wer hineinschaut, hat detailgetreu das alte Luzern vor sich, Ausgabe 1450. Der Wasserturm steht, die Jesuitenkirche fehlt. Ein phänomenaler Zeitsprung aus unserer Zeit ins Mittelalter. Der kleine Gucker ist Teil des neuen Kulturabenteuers Museggmauer.
Das ist ein gemeinsames Vermittlungsprojekt der Pädagogischen Hochschule und der Kantonsarchäologie, das auf abenteuerliche Weise Geschichte erlebbar macht (siehe Box). «Wer wissen will, wo seine Wurzeln sind, muss mit der Kulturgeschichte vertraut sein», sagt Jürg Manser. «Deshalb möchten wir, dass jede Schülerin, jeder Schüler einmal auf der Museggmauer steht und so das Mittelalter für sie greifbar wird.» Während über dreissig Jahren hat Manser, der Ende Oktober in Pension geht, die archäologische Forschung im Kanton Luzern massgeblich geprägt, seit 2010 als Leiter der Abteilung Denkmalpflege und Archäologie.
Der Bäcker in der Eisengasse
Warum ausgerechnet Archäologie? Vielleicht geht diese Leidenschaft auf seinen Vater zurück. Der war Arzt in Dagmersellen und stark an Archäologie und Geschichte interessiert, die grosse Hausbibliothek war entsprechend ausgestattet. Der Vater starb, als Jürg fünfjährig war, vermutlich wurden damals die Keimzellen für sein Geschichtsinteresse gelegt. Jedenfalls hat Manser beim Studium schon bald vom Nebenfach zum Hauptfach Archäologie gewechselt. «Ich bin ein Handwerker, muss mit den Händen arbeiten.»
Feldarchäologie ist eine kriminalistische Tätigkeit. Sorgfältig im Boden graben, minutiös Scherben, Knochen, Abfälle dokumentieren, aufgrund von Brandspuren, Gräbern oder Pfostenlöchern ein Lebensbild des frühzeitlichen Dorfbewohners entwickeln. «Der Bäcker, der in der Eisengasse lebte, hat keine schriftlichen Quellen hinterlassen», sagt Jürg Manser, «doch die archäologischen Spuren seiner Bäckerei tragen dazu bei, dass seine Existenz im historischen Gedächtnis nicht vergessen geht.» Die erste Ausgrabung als Projektleiter galt 1988 der Richtstätte in Emmenbrücke. Dort hatte der Stand Luzern während des 16. bis 18. Jahrhunderts die Leichen der Mörder und Vaganten kreuz und quer verscharrt, wie die ausgegrabenen menschlichen Skelette aufzeigten. Auch das Fundament des Galgens konnten sie freilegen. Die aufsehenerregenden Funde waren das Gesellenstück für Manser, der das interdisziplinäre Forschungsteam geleitet hatte.
Teil des neuen Kulturabenteuers Museggmauer: Jürg Manser schaut durch einen Gucker auf die Stadt Luzern von 1450 zurück.
Museggmauer: Das Rätsel der Roten Steine
Das «Kulturabenteuer Luzern» richtet sich in erster Linie an Kinder im Primarschulalter, aber auch an Familien und alle, die gerne Rätsel lösen. Fünf Rundgänge mit einem Film, Hörstationen, historischen Panoramabildern und rätselhaften roten Steinen stehen im Zentrum. Sie berichten von der Bau- und Nutzungsgeschichte dieses Baudenkmals, von dessen ökologischem Wert als Lebensraum für Tiere und Pflanzen sowie von der Bedeutung der parkähnlichen Anlage für die Luzerner Bevölkerung. Drei der fünf Abenteuer können auch im Winter erlebt werden, wenn Mauer und Türme geschlossen sind, und eines richtet sich ausdrücklich an Menschen mit einer Mobilitätseinschränkung.
Das Kulturabenteuer ist ein serielles Vermittlungsangebot der Kantonsarchäologie Luzern und des Instituts für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der Pädagogischen Hochschule Luzern. Es ist in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern bereits an drei Orten im Seetal erfolgreich in Betrieb: Ballwil – Erlebnis Eiszeit in der Kiesgrube Lötscher, Ottenhusen – Römerturm beim römischen Gutshof, Lieli – Burgruine Nünegg. Ziel ist es, die eigene Kulturgeschichte an Originalschauplätzen zu erleben und diese auf spielerische Art zu erkunden. www.kulturabenteuer.ch
Ein guter Archäologe, so Jürg Manser, müsse die Menschen gernhaben, auch wenn sie nicht mehr lebten. Dabei geht es nicht immer um Mord und Totschlag. Am stärksten habe ihn über all die Jahre berührt, wie sie bei Ausgrabungen der 1475 gebauten Pfarrkirche von Greppen auf dem Mörtelboden die Spuren von Kinderfüssen hätten sehen können. «In solchen Momenten spürst du das Leben.» Auch der Fingerabdruck eines Töpfers, so erinnert sich der Kantonsarchäologe, mache die Vergangenheit unversehens lebendig.
Archäologie ist «kontrollierte Zerstörung»
In seiner Amtszeit hat Manser hunderte von archäologischen Rettungsgrabungen durchgeführt, meistens ausgelöst durch Bauvorhaben. Investoren und Bauherrschaften, die ihre Projekte möglichst zügig realisieren wollen, ärgerten sich früher oft über Verzögerungen durch die Archäologie. Dank dem digitalisierten Fundstelleninventar des Kantons Luzern, das die Planungsprozesse stark erleichtere, habe sich die Situation jedoch entspannt. «In den letzten Jahren gab es kaum noch Streit», sagt Jürg Manser. Dennoch führen die grosse Bautätigkeit und die Grabungen zu einer «kontrollierten Zerstörung» der archäologischen Bodenschätze. Immerhin werden die Funde in der archäologischen Datenbank minutiös dokumentiert und wissenschaftlich aufgearbeitet. Das ist umso wichtiger, weil neue Methoden und Instrumente die Forschung unglaublich verbessert hätten. So wäre es heute dank der DNA-Analysen denkbar, die Skelette der Richtstätte in Emmenbrücke nochmals zu untersuchen und in Verbindung mit den damaligen Gerichtsakten das Leben der Hingerichteten zu erhellen.
Wäre dies ein Projekt für den pensionierten Archäologen? Das will Jürg Manser nicht kategorisch ausschliessen. Doch vorerst hat er andere Pläne. Zum Beispiel will er in die kroatische Stadt Split an der dalmatinischen Küste reisen, um dort die griechisch-römischen Ursprünge (mit dem Diokletianspalast) zu studieren. Split sei für ihn als Archäologen so etwas wie ein Sehnsuchtsort. Doch Archäologie findet auch in der eigenen Garage statt. Dort steht sein alter «Jaguar» (Jahrgang 1971), den er Stück für Stück auseinandernehmen und wieder zusammensetzen will – der Oldtimer als schönes Zeugnis der Industriekultur.
27. September 2023 – beat.buehlmann@luzern60plus.ch