Heimkoch aus Leidenschaft
Von Marietherese Schwegler - 13. August 2014
Am Mund vorbei gekocht: So etwas muss sich Markus Biedermann, seit 1979 Heimkoch, inzwischen auch Gerontologe und anerkannter Berater in Sachen Esskultur im Alter, wohl nie vorwerfen lassen. In seiner Kochphilosophie stehen die individuellen Wünsche der Heimbewohnerinnen und -bewohner weit oben. Sie sollen nicht einfach essen müssen, was unten in der Heimküche oder noch weiter weg in einer Zentralküche ab Band auf den Teller geschaufelt wird. Die Küche stehe im Dienste der Heimbewohner, solche Statements seien zwar heute von den meisten Heimleitungen zu hören, sagt Markus Biedermann. „Aber oft ist es ein blosses Lippenbekenntnis, das in der Praxis nicht umgesetzt wird.“ Er versteht einen Heimkoch zugleich als Gastgeber, der seine Gäste mit ihren individuellen Essgewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen kennen muss. Und das geht nur über persönliche Begegnungen mit den alten Menschen.
Die Menschen und ihre Wünsche kennen
„Beziehungsangebot“ nennt Markus Biedermann das Kochen und Essen im Heim. Es ist für ihn selbstverständlich, dass die Mitarbeitenden in der Küche nicht unter sich bleiben, sondern regelmässig in die Wohn- und Pflegeabteilungen gehen, dass sie einen Apéro an einem Feiertag auch mal selber servieren. Und dass sie die Bewohnerinnen und Bewohner namentlich kennen, mit ihnen sprechen und scherzen. So wie er selber das oft gemacht hat. „Da habe ich Geschichten gehört, die Herzen haben sich geöffnet.“ Ganz offensichtlich hat dieser persönliche Umgang mit den Heimbewohnern den Koch nachhaltig bereichert und motiviert.
Seine innovative Kochkultur wurde begründet, als er in den 1980er-Jahren Koch war im Altersheim Weiermatt in Münchenbuchsee. Die Heimleitung sei offen gewesen für neue Ideen und habe Experimente unterstützt, betont er mehrmals. So hat er dort schon die Menus ganz demokratisch mit den Heimbewohner zusammen geplant. In der Weiermatt hat Markus Biedermann sozusagen seine Meisterprüfung als Heimkoch gemacht. Basierend auf diesen frühen Erfahrungen hat er die Kochkultur bis heute stetig weiterentwickelt.
Zu seinem Konzept gehört unter anderem, dass die Küchenbrigade regelmässig auf der Abteilung kocht oder die Bewohner gelegentlich von einem fahrbaren Buffet selber auswählen können. In einem Heim hat er ein Göttisystem eingeführt: Jeder Mitarbeiter aus der Küche wurde zum Götti einer Bewohnerin, eines Bewohners und besuchte ihn oder sie täglich während dem Mittagessen. So wurden ihm dieser alte Mensch vertraut, er lernte seine Vorlieben kennen. Natürlich wusste der Koch dann, dass Oskar zum Beispiel Hörnli und Ghackets liebt, und schöpfte reichlich davon auf dessen Teller. Und zum Geburtstag brachte er ihm ein Präsent aus der Küche ins Zimmer.
Essen ist etwas Sinnliches, betont Markus Biedermann: Die Küche sollte das Brutzeln und die Düfte direkt in den Wohnbereich bringen. Wenn zum Beispiel die Zwiebeln für den Risotto auf einem fahrbaren Kocher vor den offenen Zimmertüren angedünstet werden oder der Kuchen auf der Abteilung gebacken wird, steigen die feinen Düfte den Bewohnern in die Nase, wecken sie und machen sie gluschtig. Essen spricht alle Sinne an und kann Erinnerungen wachrufen. Riechen, hören, anschauen und anfassen – solche Stimulationen haben gerade für demenziell erkrankte Menschen etwas Belebendes und Verführerisches. Diesem Thema widmete Biedermann sich übrigens vertieft in seinem Gerontologiestudium.
Neugierig, erfinderisch, mit Herz
Nie war Markus Biedermann auf irgendwelche Normen fixiert, sondern interessierte sich für die Menschen im Heim, wollte von ihnen wissen, was sie kennen und lieben, ihnen Wertschätzung entgegenbringen. Dazu war Kreativität gefragt, Raum zum Ausprobieren. Die Nähe zu den Heimbewohnern, das Zuhören und Beobachten hat Markus Biedermann immer wieder angespornt, neue Gerichte und Sachen zu kreieren, die sich über die Jahre zu seinem Markenzeichen, der „Esskultur im Alter“ fügten.
Essen à la carte im Altersheim? Kein Privileg für Gäste einer edlen Altersresidenz. „A la carte“ hat Markus Biedermann schon in Münchenbuchsee wie folgt interpretiert: Einmal im Monat gingen die Heimbewohner selber einkaufen, begleitet vom Küchenteam, das sich die Zeit dazu dank einem einfachen Mittagsmenü eingespart hatte. Jeder und jede wählte für sich in der Dorfmetzgerei genau das aus, worauf er oder sie Lust hatte: Frau Baumgartner plante Kalbsschnitzel mit Rahm, ein paar Männer posteten zusammen Speck und Zunge und andere Zutaten für eine Berner Platte. Am Folgetag wurde das individuelle Essen nach ihren Wünschen gekocht. Die Auslagen wurden ihnen selbstverständlich zurückerstattet. Selbst dann, wenn Frau Graber für vier und genug für eine Woche einkaufte – so wie sie es früher für ihre Familie getan hatte, in einer Zeit, in der sie sich im Alter mental oft wieder aufhielt.
Wahlmöglichkeiten schaffen
Die Wahl haben, das essen, was sie von früher mögen, dort wo die Erinnerungen daheim sind: Das alles gehört zur Esskultur im Alter. „Soll ich einer Neunzigjährigen sagen, was gesundes Essen ist?“ Nein, Diätküche ist in diesem Alter nicht mehr wichtig. Die Erfahrung hat Markus Biedermann gelehrt: „Die Lust ist primär, das Erlebnis. Bis zum Lebensende.“ Und da erinnert er sich an einen besonderen Moment. Eine Pflegerin habe ihm gesagt, Frau Sommer möge nichts mehr essen. Markus Biedermann hat sich zu der Hochbetagten ans Bett gesetzt, gewartet, und hörte plötzlich: „Hörnli mit Apfelmus.“ Leise aber bestimmt. Er hat sofort in der Küche angerufen und das Gewünschte bestellt, der Lehrling hat es nach einer halben Stunde ins Zimmer gebracht. „Die Frau hat ein paar Löffel gegessen, dann hat sie den Kopf abgelegt und ist gestorben.“ Markus Biedermanns Augen werden feucht, als er das erzählt. „Jetzt, nicht aufschieben“, das sei in seinem Beruf wichtig. Und dass er damals genauso gehandelt hat, macht ihn heute noch sichtlich zufrieden.
Fingerfood und Smoothfood
Eine seiner Entwicklungen ist Fingerfood: Nicht die marinierten Crevetten sind gemeint, die an der Kunstmesse elegant am Spiessli zum Apéro gereicht werden. „Fingerfood“ benannte Markus Biedermann zum Beispiel die essbare Tischdekoration: Broccoliröschen und andere mundgerechte Häppchen, arrangiert in hübschen Glasschiffchen in der Tischmitte. Die Idee hatte ihm die Leiterin einer Demenzabteilung geliefert. Sie beklagte, dass die Leute immer alles Dekomaterial in den Mund steckten; nun würde sie den Tisch halt nicht mehr dekorieren. Markus Biedermann machte aus der Not eine Tugend. „Nie blieb in den Schälchen etwas übrig“, freut er sich. Aus dieser Idee wurde dann das Fingerfood-Konzept entwickelt. Man kreierte Spaghetti Bolognese als Kroketten, Bernerplatte als kleine Krautwickel, ähnlich einer Dolmades und anderes mehr.
Oder da ist sein „Smoothfood“ – kreiert für Menschen mit Schluckbeschwerden, speziell auch für Demenzkranke. Was üblicherweise als Brei serviert wird, kommt bei Markus Biedermann gepflegt daher: Fein in der Konsistenz, aber ansehnlich in Form und Farbe wird ein Gemüseflan oder ein Fleischpudding serviert. Rohe Randen oder Blattsalat werden als Schaum zubereitet, sogar ein Frühstück aus Brot, Kaffee, Butter und Konfi wird zum Frühstücksschaum aufbereitet. Je nach Krankheitsbild und ernährungsphysiologischen Bedürfnissen werden auf diese Weise unterschiedlichste Grundnahrungsmittel zubereitet.
Selbstverständlich sind Kreationen wie Fingerfood oder Smoothfood nicht Selbstzweck. Es geht darum, dass auch kranke Menschen so lange als möglich erfolgreich selbständig essen können – eben auch von Hand, wenn es mit Gabel oder Löffel nicht mehr geht.
Das Personal befähigen und begeistern
Die Frage drängt sich auf: Lässt sich dieses anspruchsvolle Kochkonzept im Heimalltag wirklich umsetzen? Und was kostet das? Die Logik der Institution oder vermeintliche Sachzwänge sind für Markus Biedermann höchstens eine Herausforderung, sie zum Wohl der Heimbewohner zu überwinden. Dass zum Beispiel eine Zentralküche für fünf oder zehn Heime einer Stadt eine gute Lösung sein soll, bezweifelt er. Logisch, er, dem die Nähe der Köche zu den Bewohnerinnen und Bewohnern als Voraussetzung einer guten Esskultur gilt. Ökonomisches Denken und Handeln ist ihm überhaupt nicht fremd. „Schliesslich bin ich Unternehmer und nicht Unterlasser“, spasst er. Doch es gebe verschiedene Arten von Kostenbewusstsein. So habe er in einem der Heime das Küchenteam nach einiger Zeit von 21 auf 16 Personen verkleinert, ohne das Kernanliegen, eine bewohnernahe Küche, zu vernachlässigen. „16 begeisterte Mitarbeitende leisten gleich viel wie 20 andere, die einfach nur ihren Job machen. Und was ist uns die Zufriedenheit der Heimbewohnerinnen und -bewohner wert?“ fragt er rhetorisch.
Auch beim Einkauf ist Markus Biedermann kostenbewusst. Saisongerechtes Gemüse, statt Kalbsfilet auch mal Blut- und Leberwurst, was viele alte Menschen ohnehin lieben. Und auf dem Teller 20 Gramm weniger Fleisch als die Norm, dafür in Topqualität, das bringe erst noch ein Erfolgserlebnis: „Ich habe alles aufgegessen!“ Den meisten sei es nämlich unangenehm, die Hälfte auf dem Teller liegen zu lassen, weil sie es nicht mögen oder es einfach zu viel ist.
Die gleiche Haltung teilen
Sein integratives und bewohnerfreundliches Konzept kann freilich ein Koch nicht alleine anordnen und umsetzen. Für Markus Biedermann ist das nur möglich, wenn in einem Altersheim oder einer Demenzeinrichtung alle die gleiche Haltung teilten: das Küchenteam, das Pflegepersonal, die Hauswirtschaft und natürlich die Heimleitung. Dass sein interdisziplinärer Ansatz nicht nur mehr Esskultur, sondern auch mehr Lebensqualität für Heimbewohner und Mitarbeitende zur Folge hat, leuchtet ein.
Zur Person:
Markus Biedermann, dipl. Küchenchef, hat lange als Koch in Altersheimen gearbeitet, war selber Heimleiter und hat von 1999 bis 2003 Gerontologie studiert. Er hat unter anderem eine Heimkoch-Ausbildung konzipiert. Heute führt er ein Kompetenzzentrum für Esskultur im Alter, bietet Schulungen zur „Esskultur als integratives Konzept“ an und ist als Berater und Coach für verschiedene Institutionen in Deutschland, Holland, Luxemburg und der Schweiz tätig, insbesondere auch zur Esskultur für Menschen mit Demenz. Er hat mehrere Bücher publiziert und für seine innovativen Konzepte zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Er lebt mit seiner Familie in Interlaken und Herzogenbuchsee.
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