Cécile Bühlmann. Bild: Joseph Schmidiger

Keine Weihnachtsgeschichte

Von Cécile Bühlmann

Ich halte es fast nicht mehr aus im Kinosessel, dieser Stress, diese Gefahren. Ein junger Mann hetzt mit einem Velo durch das nächtliche und verregnete Paris, die Kameraführung verleiht mir das Gefühl, selber mit grosser Geschwindigkeit zwischen den Autoschlangen unterwegs zu sein. Ich ahne, dass der Crash unvermeidlich kommen muss. Souleymane, so heisst der Velokurier, wird von einem Auto angefahren und stürzt. Aber er muss weiter mit dem havarierten Rad und mit der zerquetschten Tüte, die er ausliefern muss, sonst kriegt er kein Geld.

Der Film* erzählt die Geschichte Souleymanes, der aus Guinea nach Frankreich geflüchtet ist und da einen Asylantrag gestellt hat. Das Leben des jungen Mannes ist gnadenlos hart, er wird betrogen, zusammengeschlagen, ausgenützt. Er fristet als illegaler Velokurier ein Leben am Rande der Erschöpfung, schläft in einer unterirdischen Notschlafstelle mit Dutzenden anderer Männer, nicht einmal das gleiche Bett ist ihm da sicher. Es ist ein Leben auf der untersten Stufe der sozialen Leiter in der Glitzerstadt Paris. Mir geht immer wieder der Gedanke durch den Kopf: Wie hält ein Mensch das alles aus?

Souleymane erzählt bei der Anhörung eine erfundene Geschichte über seine angebliche politische Verfolgung. Er hat all die falschen Daten und Orte auswendig gelernt. Er weiss, dass er die Beamtin mit der politischen Verfolgung überzeugen muss, weil seine richtige Geschichte nie zu einem positiven Entscheid führen wird. Dass er für seine psychisch kranke Mutter, die als Teufelsweib verschrien aus der Dorfgemeinschaft vertrieben wurde, unbedingt Geld für Medikamente auftreiben muss, interessiert in Europa niemanden.

Nach dem Kino gehe ich durch die weihnächtlich geschmückte Stadt nach Hause, vorbei an Schaufenstern voller Waren, vorbei an Menschen, die von Weihnachtsmärkten, von Glühweinständen kommen und auf dem Weg in ihr warmes Zuhause sind. Es ist ein so abrupter Wechsel vom traurigen Leben Souleymanes in meine reale, wohlbehütete Welt, dass ich halb benommen bin. Wieder einmal beschämt mich die Ungerechtigkeit der Welt und wie unglaublich privilegiert ich bin.

Es gibt Tausende von Souleymanes in Europa. Armutsflüchtlinge, deren Leben in ihrer Heimat so miserabel ist, dass sie all die Strapazen und Erniedrigungen auf der Flucht auf sich nehmen, getrieben von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Seit 2014 ist das Mittelmeer Grab für über 30'000 Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten geworden, die nichts anderes bei uns suchten, als ein Leben in Würde und Sicherheit. Hier aber will man sie nicht. Es seien die Falschen, die zu uns kämen, tönt es aus der Politik. Im Nationalrat werden Vorstösse eingereicht, die den Familiennachzug einschränken, den ukrainischen Kriegsvertriebenen ihren S-Status wegnehmen und die Geflüchteten aus Syrien am Tag nach Assads Sturz nach Hause schicken wollen.

Erzählt nicht die christliche Weihnachtsgeschichte die Botschaft, dass alle Menschen gleich an Würde seien? Und was für ein Menschenbild steht hinter dem Ruf nach Rückschaffungen in Not und Elend und der gleichzeitigen Kürzung der Entwicklungsgelder für die Länder des Südens? Es fällt mir schwer, darob nicht zu verzweifeln.

Weihnachten 2024 – cecile.buehlmann@luzern60plus.ch

*Der Film «L’ Histoire de Souleymane» wurde im Rahmen der Comundo-Filmtage «Menschenrechte» im Stattkino Luzern gezeigt.


Zur Person
Cécile Bühlmann ist in Sempach geboren und aufgewachsen. Sie war zuerst als Lehrerin, dann als Beauftragte und Dozentin für Interkulturelle Pädagogik beim Luzerner Bildungsdepartement und an der Pädagogischen Hochschule Luzern tätig. Von 1991 bis 2005 war sie Nationalrätin der Grünen, zwölf Jahre davon Fraktionspräsidentin. Von 1995 bis 2007 war sie Vizepräsidentin der damals neu gegründeten Eidg. Kommission gegen Rassismus EKR. Von 2005 bis 2013 leitete sie den cfd, eine feministische Friedensorganisation, die sich für Frauenrechte und für das Empowerment von Frauen stark macht. Von 2006 bis 2018 war sie Stiftungsratspräsidentin von Greenpeace Schweiz. Sie war bis 2024 Vizepräsidentin der Gesellschaft Minderheiten Schweiz GMS. Seit 2013 ist sie pensioniert.